Berliner Zeitung 12.1.99

„Türkei will Öcalan nicht mehr“
Zeitung: Militärs in Ankara nennen politische Gründe

Von Sigrid Averesch
ROM/BERLIN, 10. Januar. Die Türkei will nach einem Bericht der italienischen Zeitung „La Repubblica“ angeblich nicht mehr, daß der in Rom festgesetzte Kurdenführer Abdullah Öcalan in ihr Land ausgeliefert wird. „Es wäre zu gefährlich, ihn auf unserem Territorium zu haben“, berichtete die Zeitung am Sonntag unter Berufung auf Quellen des türkischen Außenministeriums. Formal liege eine solche Entscheidung nicht vor, auch werde dies Rom niemals in dieser Form mitgeteilt werden, wird betont. Ankara hat offiziell einen Auslieferungsantrag gestellt.
Für die veränderte Haltung der türkischen Regierung werden politische Erwägungen angeführt. „Es wäre besser, sehr viel besser, wenn er (Öcalan) verbannt oder sich zurückziehen würde, weit weg vom Mittelmeer, vielleicht nach Nordkorea“, heißt es. Ein türkischer Militärchef wird mit den Worten zitiert: „Wir haben gar nicht so viel Lust, Öcalan hierzuhaben.“ Denn in der Türkei würde der 49jährige entweder hingerichtet, was zu weltweiten Protesten, „einem Desaster“, führen könnte. „Oder wir inhaftieren ihn und machen ihn so zu einem lebenden Märtyrer. Besser er verschwindet.“
Der Chef der in der Türkei und in Deutschland verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK wurde am 12. November auf dem Flughafen in Rom festgenommen. Er steht in einem Haus in Ostia bei Rom unter Bewachung. Der 49jährige verlangt für eine sogenannte einvernehmliche Abschiebung Garantien zu seiner Sicherheit. Er fürchtet Anschläge. Von einer Auslieferung wurde bislang abgesehen, da ihm in der Türkei die Todesstrafe droht. Die Regierung in Ankara macht Öcalan für die rund 30 000 Tote verantwortlich, die der Bürgerkrieg in Ostanatolien seit 1984 forderte.  Deutschland hat trotz eines internationalen Haftbefehls wegen Mordes auf eine Überstellung verzichtet.
Prozeß in Rom gegen Völkerrecht
Ob der Kurdenführer in Italien vor Gericht gestellt werden kann, wird unterschiedlich bewertet. Die Anwälte Öcalans halten einen Prozeß aus völkerrechtlicher Sicht für nicht möglich. Zwar bestehe theoretisch die Möglichkeit, ein Strafverfahren auf der Grundlage der europäischen Anti-Terror-Konvention von 1977 einzuleiten, nach der sich die Unterzeichnerstaaten verpflichtet haben, Terroristen auszuliefern oder diese in ihrem eigenen Land vor Gericht zu stellen. Aber diese Konvention sei auf die Vorwürfe aus der Türkei gegen Öcalan nicht anwendbar, heißt es in der Mitteilung der Bremer Anwaltskanzlei Schultz und Reimers.
„Die angeblichen Straftaten erfüllen nicht den Begriff einer terroristischen Handlung, wie er in der europäischen Konvention vorausgesetzt ist“, lautet die Begründung der Juristen. Die Öcalan vorgeworfenen Straftaten hätten in einem Krieg zwischen dem türkischen Militär und der PKK stattgefunden, im Rahmen eines internen Konflikts „in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts“. Damit widerspreche die Einrichtung eines Strafgerichts ausschließlich zur Aburteilung des PKK-Führers dem 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer nicht internationaler Konflikte. Diese UN-Konvention habe Vorrang vor der europäischen Konvention.
Der italienische Anwalt Öcalans, Giuliano Pisapia, vertrat nach Presseberichten die Meinung: „Ein Prozeß in Italien ist wahrscheinlich, würde sich aber lange hinziehen und wäre schwierig.“ Auch seien die Anklagepunkte „extrem fragil“.
Die Anwälte Öcalans betonen erneut, daß der Kurdenführer sich einem internationalen Kriegsverbrechertribunals nach dem Vorbild der Gerichte für Ex-Jugoslawien stellen wolle. Dann müßten auch die Straftaten des türkischen Militärs angeklagt und verhandelt werden. Die Juristen fordern abermals eine Kurdenkonferenz, um einen Friedensprozeß ähnlich dem in Irland oder Palästina einzuleiten. (mit dpa)