Frankfurter Rundschau 8.1.99

Suche nach den „Verschollenen“
In der Türkei gehen die Samstags-Mütter trotz eines Demonstrationsverbots für ihre Söhne auf die Straße

Von Cancan Topçu
Hastig gestikuliert Emine Ocak. Zwischendurch zupft sie ihr schwarzes Kopftuch zurecht. Die grauhaarige Frau spricht aufgeregt, hört plötzlich auf und blickt verzweifelt in die Kamera. Ein deutsches Fernsehteam bereitet eine Sendung über die als „Samstag-Mütter“ bekanntgewordene Gruppe vor. Die Samstag-Mütter machen den Staat für das Verschwinden ihrer Angehörigen verantwortlich und fordern Aufklärung.
Wer wäre besser geeignet als die Mutter von Hasan Ocak, das Anliegen der Samstag-Mütter vorzutragen? Die 63jährige, deren Sohn von den türkischen Sicherheitskräften im Frühjahr 1995 ermordet wurde, ist die Initiatorin der Protestaktion. Unterstützt durch das Istanbuler Büro des Menschenrechtsvereins (IHD) begann Emine Ocak mit dem Sit-in am Galatasaray-Park in Beyoglu, einem der belebtesten Geschäftsviertel Istanbuls. Das war am 19. Dezember 1998.
Schon nach kurzer Zeit schlossen sich ihr andere Mütter, Ehefrauen und Verwandte von „Verschollenen“ an. Ob Sonne oder Regen, ob Schnee oder Wind - von der Witterung ließen sie sich nicht abhalten und sammelten sich mit Bildern der Verschwundenen auf dem kleinen Platz.
Immer wieder wenden sich Verwandte von Vermißten hilfesuchend an den IHD. „Auffällig ist, daß es sich bei den Verschwundenen zum Großteil um Personen aus dem linken politischen Lager handelt - oder daß sie sich für die Rechte des kurdischen Volkes engagierten“, erklärt Saban Savurur vom IHD Istanbul. Einem Bericht von amnesty international (ai) zur Folge sind seit Beginn der neunziger Jahre in der Türkei mehr als 200 Menschen verschollen. Manchmal tauchen die Leichen am Straßenrand auf oder - wie im Fall von Hasan Ocak - auf Friedhöfen für Unbekannte.
Anders als in den Jahren zuvor, in denen die zuständigen Behörden vehement bestritten, daß die von der Polizei oder Gendarmerie festgenommenen Frauen und Männer verschwinden, heißt es in offiziellen Erklärungen inzwischen, daß der Staat nicht systematisch gegen Oppositionelle vorgehe. Vereinzelt käme es leider doch vor, daß Polizeibeamte eigenmächtig handelten. „Selbstverständlich verfolgen wir diese Fälle genau und ziehen die Schuldigen zur Rechenschaft“, erklärt der Sprecher des für Menschenrechte zuständigen Staatsministers. Ab Januar 1999 sollen Polizeireviere sogar mit Videokameras ausgestattet sein: Eine Maßnahme, um gegen Beamte vorgehen zu können, „die so heftig zur Tat schreiten, daß dabei manch einer ums Leben kommt“.
Unter welchen Umständen ihr Sohn starb, weiß Emine Ocak nicht. Die Kurdin hat viel zu sagen - nur fehlen ihr manchmal die Worte. Denn der türkischen Sprache ist sie nicht ganz mächtig. Vom Türkischen ins Kurdische wechselnd berichtet die Mutter. Am 21. März 1995 verschwand ihr Sohn. Wochenlang suchte sie nach Hasan - vergeblich. In den Amtsstuben wurde der kurdischen Frau nicht geholfen. Erst durch einen anonymen Hinweis fand die Familie den Vermißten - auf dem Istanbuler Friedhof für Unbekannte. Die Autopsie ergab, daß es sich tatsächlich um den Leichnam des 30jährigen handelte und daß er an den Folgen der Folter starb.
Regelmäßig berichten linke und liberale türkische Medien über den Protest der Samstag-Mütter. „Die Medien sind schuld daran, daß die Leute immer noch demonstrieren wollen. Wer Suchmeldungen aufgeben will, soll sich an uns wenden“, erklärt Ercüment Yilmaz vom Polizeikommissariat Beyoglu.  Der Kommissar hat kein Verständnis dafür, daß diese Menschen der Polizei mißtrauen und den Staat für das Verschwinden ihrer Angehörigen verantwortlich machen.
In scherzhaften Ton, aber durchaus ernst gemeint, schlägt der Einsatzleiter den am Galatasaray-Platz versammelten Journalisten einen Handel vor: „Ihr hört auf, darüber zu berichten, und wir lassen euch in Ruhe.“ Und während der Polizeibeamte mit den Reportern spricht, werden in einem Wagen mehrere Demonstranten abgeführt - zu spät, um mit Kameras die Festnahme festzuhalten. „Sie haben uns wieder reingelegt“, murmelt ein Fotograf. Bilder vom Protest der Samstag-Mütter kann das deutsche Kamerateam an diesem Tag auf dem Galatasaray-Platz nicht einfangen.  Stunden vorher hat die Polizei, die mit Hunderten Beamten vor Ort ist, Barrieren errichtet und läßt die Demonstranten nicht durch.
Weder Solidaritätsbekundungen prominenter türkischer Kulturschaffender noch die Proteste ausländischer Menschenrechtsorganisationen halten die Sicherheitskräfte davon ab, gegen die Demonstranten vorzugehen. So hat sich Emine Ocak nicht nur an Interviews, sondern auch an Verhöre gewöhnt. Sie weiß nicht einmal mehr, wie oft sie in Polizeigewahrsam genommen wurde. In den vergangenen drei Jahren haben die Regierungen mehrmals gewechselt - ihre Haltung gegenüber den Samstag-Müttern hingegen nicht. Einen Wechsel gibt es lediglich in der Taktik der Polizei.  Mit Tränengas, Wasserwerfern oder weitläufiger Absperrung des Platzes werden die Protestkundgebungen immer wieder verhindert. In jüngster Zeit nimmt die Polizei die Frauen und Männer direkt vor dem Gebäude des Menschenrechtsvereins fest - noch bevor sich die Gruppe auf dem Weg zum Galatasaray-Platz machen kann.
„Demonstrationen sind dort verboten - so ist der Beschluß des Ministerrats“, erklärt Yilmaz. Er sei lediglich dafür verantwortlich, daß diese Anordnung eingehalten werde - auch damit sich Geschäftsleute nicht beschwerten. Doch das scheint nur eine vorgeschobenes Argument zu sein.  „Wenn alles friedlich verläuft, spüren wir keinerlei Einbußen. Die Kunden bleiben eher wegen des zu großen Polizeiaufgebots und der ständigen Ausweiskontrollen weg“ - lautet der Tenor der Ladeninhaber rund um den Galatasaray-Platz.
„Demonstrationen für die Auslieferung des PKK-Führers Abdullah Öcalan werden aber nicht verhindert werden“, berichtet Saban Savurur vom IHD Istanbul. Der Menschenrechtler macht darauf aufmerksam, daß sich seit Anfang November Hunderte Menschen mit rechter Gesinnung in der geschäftigen Einkaufsstraße versammeln und nationalistische Parolen schreien, ohne daß die Polizei einschreite und die Menge auflöse.
Der eigentliche Grund für das Demonstrationsverbot der Samstag-Mütter wird im Innenministerium „off-record“ erklärt. Die türkische Menschenrechtsorganisation IHD, die den Protest der Samstag-Mütter koordiniert, sei ein verlängerter Arm der kurdischen Terrororganisation PKK. „Wer hier vorgibt, sich für Menschenrechte einzusetzen, setzt sich für die PKK ein und will die Türkei ins schlechte Licht stellen.“
Weil ihnen der Weg zum Galatasaray-Platz versperrt wird, der zu einer symbolischen Grabstelle geworden ist, geben die Samstag-Mütter jetzt ihre wöchentliche Presseerklärung vor dem Eingang des Istanbuler IHD-Büros ab. Sie fragen weiter nach dem Verbleib ihrer Angehörigen. „Ich weiß jetzt, wo das Grab meines Sohnes ist und kann dort zu ihm sprechen“, erklärt Emine Ocak vor der Kamera. Aus Solidarität mit denen, die im Ungewissen über den Verbleib ihrer Angehörigen sind, will sie weiter an der Protestaktion teilnehmen - auch wenn sie nicht am Galatasaray-Platz stattfinden dürfen.