Stuttgarter Zeitung 8.1.99

¸¸Ein Sarg ist kein Kundgebungsmittel’’
OB Schuster will keinen Präzedenzfall - Polizeipräsident
Haas hat mehr Toleranz erwartet
Protest mit Sarg? 2500 Kurden hatten die Absicht, mit dem Leichnam eines in Haft verstorbenen Landsmannes zu demonstrieren. Stadt und Land haben dies verboten, der Polizeipräsident hätte es toleriert - ein Streit um Toleranz und Härte gegen Radikale.

Von Eberhard Renz
¸¸Das Bestattungsgesetz läßt eine Zurschaustellung einer Leiche nicht zu. Ein Toter muß auf direktem Weg zur Bestattung gebracht werden’’, begründet Alfons Nastold, Leiter des Ordnungsamtes, die Entscheidung. Im Falle von Öztürk, der sich am 1.November in der Abschiebehaft in der Justizvollzugsanstalt Stammheim angezündet hatte, bedeutete dies einen direkten Transport von Koblenz zum Flughafen Frankfurt und von dort aus in die Türkei. ¸¸Stammheim hat keinen Bezug zu seiner Bestattung’’, sagte Nastold. Zudem könne laut Versammlungsrecht ¸¸ein offener Sarg kein Kundgebungsmittel sein’’.
Stuttgarts Polizeipräsident Volker Haas hatte sich zur Beruhigung der Lage um eine Rücknahme des Verbots bemüht. ¸¸Die Situation hätte kippen können’’, sagte er. ¸¸Die Leute waren sehr enttäuscht und verbittert.’’ Bei der Veranstaltung habe es sich um eine Mischung aus Trauerkundgebung und politischer Demonstration gehandelt.  Die Teilnehmer hätten Blumen und Kränze bei sich getragen, um diese am Sarg niederzulegen. Sie hatten aber auch Fahnen der PKK bei sich, um politisch zu demonstrieren.
Haas teilte mit, daß für die Überführung des Leichnams nach Stuttgart eine Genehmigung der Stadt Koblenz vorgelegen habe. Die Kundgebung in Stammheim war vom Amt für öffentliche Ordnung genehmigt worden. Sie hatte von Anfang an das Motto: ¸¸Im Gedenken an Barzan Öztürk.’’ Haas:
¸¸Dies mußte den Teilnehmern die Gewißheit verschaffen, daß sie in Anwesenheit des Leichnams ihre Gedenkkundgebung durchführen können.’’ Die Befürchtung, daß der Sarg geöffnet und in offenem Zustand herumgetragen werde, sei grundlos gewesen. ¸¸Nach moslemischer Sitte darf der Sarg nicht geöffnet werden’’, sagte Haas. Lediglich der Vater und Brüder dürften den Toten sehen. Daher gehe die Verfügung der Stadtverwaltung von einem falschen Sachverhalt aus.
Der Polizeichef glaubt, daß der weitere Verlauf der Kundgebung unkalkulierbar geworden wäre, wenn die hessische Landesregierung nicht einer Ersatzveranstaltung am Frankfurter Flughafen zugestimmt hätte. ¸¸Menschen in Trauer um ihren ,Bruder’, den sie als ,Märtyrer’ sehen, sind in ihrem Verhalten schwer zu berechnen.’’ Im übrigen erscheine es ihm ein Gebot der Toleranz und des Respekts vor der Trauergemeinde das Mögliche zu tun, damit die Trauernden ihrer Trauer so Ausdruck geben können, wie sie es für richtig halten. ¸¸Außerdem wäre die öffentliche Sicherheit und Ordnung dadurch nicht beeinträchtigt worden.’’
Oberbürgermeister Wolfgang Schuster sah am Mittwoch nachmittag, als er über die Entwicklung in Stammheim informiert wurde, keinen Grund, das Verbot zurückzunehmen.  ¸¸Dazu hätte es dringender Gründe bedürft’’, sagte er. ¸¸Wir können nicht beginnen, Tote zu instrumentalisieren.’’ Wenn die Verantwortlichen dies zuließen, dann kämen künftig auch ¸¸irgendwelche Rechtsradikale’’ mit denselben Wünschen.  Zudem kenne man das ja aus dem Dritten Reich.
Schuster wies außerdem darauf hin, daß die Genehmigung für die Feier mit dem Toten ¸¸ein falsches politisches Signal’’ in Richtung der terroristischen Partei PKK sein könne. Schuster:
¸¸Hätte man das zugelassen, dann könnte es durchaus sein, daß die nächste Großdemonstration der PKK in Stuttgart stattfindet.’’
Mit ausschlaggebend für seine Entscheidung sei aber auch gewesen, daß zu diesem Zeitpunkt die Alternative einer Trauerfeier am Frankfurter Flughafen bestanden habe. Mit dieser ¸¸Ersatzveranstaltung’’ sei der ¸¸kulturellen Tradition’’ genüge getan worden. Stuttgarts Oberbürgermeister wünschte sich aber für zukünftige Fälle ¸¸rechtzeitig’’ eingebunden zu werden. Dann könne man ausführliche Gespräche mit den Verantwortlichen führen und müsse nicht ¸¸im Zurufverfahren’’ Entscheidungen treffen.


Stuttgarter Zeitung 8.1.99

Kein Leichnam bei Kurden-Demo
Alle im Recht?
Von einem Toten Abschied zu nehmen, dieses Recht steht allen Menschen zu. Trauerfeiern sollen würdig sein, dem Verstorbenen gerecht werden; der Abschied soll den Riten der Angehörigen entsprechen, ohne die Gefühle anderer zu verletzen. Nicht zuletzt sind die Gesetze des Landes zu befolgen, in welchem dem Toten die letzte Ehre erwiesen werden soll.
So gesehen haben die Verantwortlichen des baden-württembergischen Innenministeriums und Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster im Falle des Kurden Barzan Öztürk richtig gehandelt (siehe Bericht). Sie haben sich an das Recht gehalten und verboten, daß der Sarg Öztürks durch das Land gefahren und auf einer Kundgebung sozusagen ¸¸zur Schau gestellt’’ wird.
Die Legalität wollte auch Stuttgarts Polizeipräsident Volker Haas wahren. Nur: er interpretierte die Bestimmungen auf seine Weise und kam aufgrund der explosiven Situation in Stammheim zu einer anderen Empfehlung: Laßt die Kurden von ihrem ¸¸Bruder’’ Abschied nehmen, dann gibt es keine Prügeleien oder Schlimmeres.
Die Intention des Polizeipräsidenten ist verständlich. Das Risiko, die Gesundheit seiner Beamten und eventuell auch friedlicher Demonstranten zu gefährden, wurde ihm zu groß.  Zudem plädierte Haas für ein Zeichen der Toleranz gegenüber den Trauernden und dem Toten - ein emotionales Argument, deshalb aber nicht automatisch ein falsches. Haas agierte aus der Konfrontation heraus. Sein Vorschlag hatte allerdings ein Risiko: abgesehen davon, daß es makaber ist, einen Toten auf eine Demonstration zu bringen - niemand konnte dafür garantieren, was angesichts des Sarges passiert wäre.
Die Befürchtung des Oberbürgermeisters, das Ansinnen der Kurden könne Nachahmer finden, scheint ein wenig weit hergeholt zu sein. Selbstverbrennungen von abgelehnten Asylbewerbern sind glücklicherweise keine Vorkommnisse, die sich alle paar Tage ereignen. Schuster wollte auch zu Recht kein falsches Signal in Richtung der verbotenen PKK aussenden. Die Frage ist nur: weshalb hat Stuttgart die Kundgebung der Kurden überhaupt genehmigt? Schon damit ging man ein Risiko ein.
Ein Glück, daß schließlich der Abschied von dem Toten in Frankfurt erlaubt worden ist. Das ist weit genug weg - und so verschwand auch das Risiko: das von Schuster wie das von Haas. Und beide durften das beruhigende Gefühl haben, das Richtige gewollt und auch getan zu haben.
Von Eberhard Renz



 
 

Stuttgarter Nachrichten 8.1.99

Kurdischer Trauerkonvoi:
Polizeikritik an OB Schuster
Präsident Haas vermißt ¸¸Toleranz und Respekt’’
Hat der OB aus Sturheit eine Eskalation heraufbeschworen?  Haben zuvor kurdische Funktionäre zwei Ämter in Stuttgart und Koblenz getäuscht? Die untersagte Kundgebung mit dem Leichnam eines PKK-Mitglieds sorgt für Verstimmungen zwischen Polizeipräsidium und Stadtspitze.

VON WOLF-DIETER OBST
Vor Tor 31, beim Frachtbereich des Frankfurter Flughafens, ging am Mittwoch um 20.30 Uhr eine improvisierte Trauerfeier mit 3000 Kurden zu Ende. Eine Kundgebung, die Stunden zuvor in Stuttgart auf einem Parkplatz vor der Vollzugsanstalt Stammheim nicht erlaubt war. Abschied von Barzan Öztürk, einem 23jährigen kurdischen Asylbewerber, der sich am 1. November 1998 in der Abschiebehaft in Stammheim selbst angezündet hatte und am Montag im Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz an den Folgen gestorben war.
Ein Politikum. Denn eigentlich hätte diese Versammlung in Stammheim stattfinden sollen. Die Organisatoren hatten zwei Genehmigungen in der Tasche: eine der Stadt Koblenz für eine Überführung der Leiche nach Stuttgart und Frankfurt, eine für die Demonstration vor dem Gefängnis. Doch eine Demo mit Sarg? Das städtische Ordnungsamt sagte in letzter Minute nein.
¸¸Es ist schade’’, kritisiert Polizeipräsident Volker Haas am Tag danach, ¸¸daß wir in Stuttgart das Beispiel an Toleranz und Respekt nicht gegeben haben.’’ Trotz der ¸¸Gefahr einer unkontrollierbaren Eskalation’’ habe OB Wolfgang Schuster als oberster Dienstherr das Verbot nicht aufgehoben. Dies stehe nicht in der ¸¸Tradition des toleranten und versöhnlichen Verhaltens von Alt-OB Rommel’’. Dabei, so Haas, sei die Befürchtung, der Sarg werde geöffnet herumgetragen, grundlos gewesen. Nach moslemischer Sitte hätte der Sarg geschlossen bleiben müssen. Nur der Umweg über Stuttgart sei ein Verstoß gegen das Bestattungsgesetz.
¸¸Ich wäre gern früher als erst am Nachmittag eingeschaltet worden’’, erklärt Schuster. Was nichts dran ändert: ¸¸Die Zurschaustellung von Leichen ist nicht vom Demonstrationsrecht gedeckt’’, sagt er. Zudem müsse man einer ¸¸terroristischen Vereinigung wie der PKK deutlich machen, daß sie sich an Spielregeln zu halten hat’’.
Die Kritik richtet sich nun an die Koblenzer, die den Umweg genehmigt hatten. Die Stadt sieht sich vom Veranstalter getäuscht: Der Mesopotamische Kulturverein hatte eine Kundgebung mit 500 bis 800 Teilnehmern gemeldet. Von einem Sarg war gar nicht die Rede. Die 2500 Kurden aus Norddeutschland, aus Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz wußten es besser.



 

Frankfurter Rundschau 8.1.99

Die Abschiebung hat sich erübrigt
Die Geschichte des PKK-Funktionärs „Murad“, der sich im Gefängnis verbrannte

Von Peter Henkel (Stuttgart)
Fehlgriffe deutscher Behörden haben zum tragischen Tod des jungen Kurden Berzan Öztürk beigetragen, der sich am 1.  November in der Abschiebehaft in Stammheim selbst verbrannte.  Tausende Kurden in Deutschland trauerten nun um ihren Landsmann - wobei die Behörden erneut eine merkwürdige Rolle spielten.
Öztürk, der als Beruf Sänger angab und sich selbst „Murad“ nannte, war ein leidenschaftlicher Anhänger des kurdischen Freiheitskampfes und des PKK-Führers Abdullah Öcalan. „Ebenso wie die Sonne nicht geleugnet wird, kann es (...) auch keine Leugnung (Öcalans) geben“, schrieb er, ehe er sich in dem Stuttgarter Gefängnis selbst in Brand setzte. „Daß ich in diesem Zusammenhang den Genossen folge (die sich selbst angezündet haben), betrachte ich als eine Pflicht, die sich mir unter den Bedingungen, in denen ich mich befinde, mit Entschiedenheit dargestellt hat“, heißt es weiter in der deutschen Übersetzung des Abschiedsbriefs.
Damit spielte Öztürk auf seine verzweifelte Lage an. Laut Aussagen von Mitgefangenen hatten ihm Justizvollzugsbedienstete angedeutet, er werde in Kürze in die Türkei abgeschoben. Dort hätte er mit Gewißheit nichts Gutes zu erwarten gehabt: Öztürk hatte bereits ein Jahr in türkischer Haft gesessen und danach am bewaffneten Kampf der Kurden teilgenommen, bis er verletzt wurde und er ins Ausland floh. Im Raum Heilbronn hatte er seine Tätigkeit für die verbotene PKK fortgesetzt; als Gebietsleiter war er verantwortlich gewesen für das Eintreiben von Geld, die Anwerbung neuer Aktivisten und politische Propaganda.
Hätten sich deutsche Behörden anders verhalten, wäre Öztürk noch am Leben, glaubt sein Anwalt Roland Kugler. Er weist darauf hin, daß Öztürk, als er am 21. August 1998 bei der Einreise mit ungültigen Papieren festgenommen wurde, einen Asylantrag stellte. Der aber ist offenbar nie bearbeitet geschweige denn entschieden worden. Vorher jedoch, so Kugler, hätte eine Abschiebeprozedur nicht einmal eingeleitet werden dürfen.
Ein anderes „Mißgeschick“ widerfuhr Öztürk, als er sich Ende Oktober vor dem Stuttgarter Landgericht wegen illegaler Einreise und Urkundenfälschung verantworten mußte. Dabei wurde zwischen den Prozeßbeteiligten ausgehandelt, daß Öztürk gestehen und dafür nach einer Verurteilung zur Bewährung auf freien Fuß kommen sollte. Stattdessen aber wurde er noch im Gerichtssaal festgenommen und nach Stammheim in Abschiebehaft verbracht - eine andere Abteilung des mit seinem Fall befaßten Regierungspräsidiums in Freiburg hatte inzwischen einen entsprechenden Haftbefehl erwirkt. Eigentlich hatte Öztürk noch eine Frist bis 4. November für eine Stellungnahme zur beabsichtigten Ausweisung gehabt.
Schließlich wurde eine kurdische Vertraute, die ihm die Nachricht von der Mandatsübernahme durch Kugler ins Gefängnis bringen wollte, nicht zu Öztürk gelassen - unter Hinweis auf fehlende richterliche Besuchserlaubnis.  Die ist nur bei Untersuchungsgefangenen nötig, nicht aber bei einem Abschiebehäftling. Einen Tag später zündete sich Öztürk an.
Auch nach seinem Tod zeigten sich deutsche Behörden und Politiker unnachgiebig im Falle „Murad“. 2500 Kurden wollten seine sterbliche Überreste aus dem Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz nach Stammheim überführen lassen und dort nach kurdischem Brauch am offenen Sarg Abschied nehmen. Der Konvoi wurde auf der Autobahn gestoppt, woraufhin die Kurden Öztürk zum Frankfurter Flughafen brachten. Dort nahmen sie in einer improvisierten Trauerfeier friedlich Abschied von ihrem Landsmann.
Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster und Baden-Württembergs Innenminister Thomas Schäuble (beide CDU) begründeten ihre harte Haltung so: Das deutsche Bestattungsgesetz schreibe einen „würdigen Umgang“ mit Toten vor - damit jedoch sei eine „politische Demonstration“ unvereinbar.


Stuttgarter Nachrichten 7.1.99

Aufregung wegen Trauerzug
2500 Kurden reisten an - Abschied am Sarg verboten

Ein riesiger Trauerzug von Kurden wollte am Mittwoch nachmittag in Stammheim von einem am Montag gestorbenen Landsmann Abschied nehmen. Der Sarg fehlte jedoch. Die Stadt hatte diese Art der Demonstration verboten. Trotzdem blieb alles friedlich.

VON GERT FACH
Die Trauerkundgebung vor der Vollzugsanstalt in Stammheim galt einem 23 Jahre alten Kurden, der der verbotenen Arbeiterpartei PKK zugeordnet wurde. Er saß in Stuttgart in Abschiebehaft und hatte sich aus Protest am 1. November 1998 in seiner Zelle selbst angezündet. Mit schweren Brandverletzungen war er in das Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz gebracht worden, wo er am Montag gestorben ist.
Der Mesopotamische Kulturverein in Zuffenhausen hatte daraufhin Landsleute aus ganz Deutschland zu einer großen Trauerdemonstration vor das Gefängnis eingeladen. Am offenen Sarg sollten die Kurden Abschied nehmen. Offenbar aus Furcht vor Ausschreitungen hatte die Stuttgarter Ordnungsbehörde mit Unterstützung des Landes diese Zeremonie verboten. Daraufhin wurde am Mittwoch ein Autokonvoi mit dem Leichnam auf der Autobahn bei Hockenheim von der Landespolizei gestoppt, um auf einem Parkplatz das weitere Vorgehen zu verhandeln.
Während sich in Stuttgart bis gegen 14Uhr an die 2500 Kurden eingefunden hatten, versuchte Volker Haas, Stuttgarts Polizeipräsident, OB Schuster zu überreden, das Verbot zurückzunehmen, um den Sarg doch noch nach Stammheim bringen zu können. Die Polizei, mit 500 Beamten vor Ort, befürchtete nämlich eine Eskalation der Ereignisse, sollte die Nachricht von dem blockierten Fahrzeugkonvoi publik werden. Der OB stellte sich jedoch hinter die Ordnungsbehörde. Es blieb bei der ablehnenden Haltung gegen eine bei den Kurden übliche Zurschaustellung eines Leichnams.
Die Fahrzeuge mit dem Sarg wurden daraufhin, begleitet von der Polizei, an den Flughafen Frankfurt umgeleitet, von wo aus der Leichnam in die Türkei überführt wird. Nach Angaben von Hermann Karpf, Pressesprecher der Stuttgarter Polizei, nahmen die Teilnehmer der Trauerfeier in Stammheim diese Nachricht ruhig auf. Die meisten seien dann nach Frankfurt gefahren. Karpf gegen 16 Uhr: ¸¸Es blieb alles friedlich. Wir hatten keine Probleme.’’ Am Dienstag hatte sich die Polizei auf weit weniger Demonstranten eingerichtet und war vom großen Andrang überrascht worden. 


Stuttgarter Zeitung 7.1.99

Kurdische Demonstration mit Leichnam untersagt Asylbewerber erliegt in Koblenz den Folgen seiner Selbstverbrennung - 2500 Landsleute protestieren vor Gefängnis in Stammheim

Ein kurdischer Asylbewerber, der sich am 1. November in der Justizvollzugsanstalt Stammheim selbst angezündet hatte, ist am Montag im Bundeswehrkrankenhaus Koblenz gestorben. Gestern haben rund 2500 Kurden in Stammheim demonstriert.

Von Thomas Schwarz
Die Stadt Stuttgart untersagte jedoch eine Demonstration mit dem Leichnam von Barzan Öztürk, der von seinen Landsleuten Murat genannt wurde. Ein Konvoi kurdischer Autofahrer, die den Sarg nach Stammheim transportieren wollten, wurde auf der Autobahn A61 bei Hockenheim von der Autobahnpolizei gestoppt. Das Land Baden-Württemberg hatte den Transport verboten.
Die Demonstranten vor der Justizvollzugsanstalt, die auf traditionelle kurdische Weise von dem Toten Abschied nehmen wollten, erklärten daraufhin, sie würden so lange auf dem Platz vor dem Gefängnis bleiben, bis er nach Stuttgart gebracht werde. ¸¸Dies ist der Ort, an dem er sich verbrannt hat. Deshalb sind wir heute hier, um uns von ihm zu verabschieden’’, sagte Memed Taskala von der sogenannten kurdischen Exilregierung. Öztürk habe sich nicht nur aus Verzweiflung angezündet, sondern auch um die Welt auf das Schicksal seines Volkes aufmerksam zu machen und gegen die türkische Politik zu demonstrieren.
Grünen-Stadtrat Roland Kugler, der Öztürk im Asylverfahren als Anwalt vertreten hatte, und Polizeipräsident Volker Haas, die gestern beide vor Ort waren, versuchten zu vermitteln, um eine eventuelle Eskalation zu verhindern. Beide setzten sich dafür ein, daß der Sarg nach Stuttgart transportiert werden dürfe. Da die Polizei an die Verfügungen des Ordnungsamtes und des Innenministeriums gebunden ist, rief Haas schließlich Oberbürgermeister Wolfgang Schuster an. Das Stadtoberhaupt bekräftigte jedoch am Nachmittag, daß der Tote nicht nach Stuttgart gebracht werden dürfe.
Die Situation vor dem Gefängnis in Stammheim, wo rund 500 Polizisten im Einsatz waren, entspannte sich erst, als die hessische Landesregierung einwilligte, daß die Demonstranten auf dem Frankfurter Flughafen Abschied von dem Toten nehmen durften; von dort wird der Sarg in die Türkei geflogen. Daraufhin traten die Kurden, von denen einige Fahnen und Stirnbänder mit PKK-Symbolen und dem Bild des kurdischen Separatistenführers Abdullah Öcalan trugen, die Fahrt nach Frankfurt an.
Barzan Öztürk war am 21. August vergangenen Jahres an der holländischen Grenze mit ungültigen Papieren festgenommen worden. Nach einem Strafprozeß wegen Urkundenfälschung, in dem er zu acht Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden war, kam Öztürk in Abschiebehaft nach Stammheim. Dort zündete er sich am 1. November an, nachdem er erfahren hatte, daß er in den nächsten Tagen in die Türkei abgeschoben werden sollte. Wie ein Mitarbeiter des Mesopotamischen Kulturvereins, der die Demonstration in Stammheim organisiert hatte, mitteilte, habe Öztürk befürchten müssen, den Flughafen von Istanbul nicht lebend zu verlassen.
Wie Memed Taskala gestern berichtete, war der Sänger in der Türkei aus politischen Gründen bereits ein Jahr in Haft gewesen. Er sei Mitglied der Kurdischen Nationalen Befreiungsfront gewesen und habe sich auch aktiv am ¸¸kurdischen Freiheitskampf’’ beteiligt, bevor er verwundet wurde und aus dem Land floh. Seine Familie sei in seiner Heimatstadt Agri nahe der armenischen Grenze wegen ihrer Beteiligung am Widerstand gegen die türkische Regierung bekannt. ¸¸Wenn er dort beigesetzt wird, gibt es einen Aufstand’’, so Taskala.