Hamburger Abendblatt 06.01.99

Ein Land ohne Lenker
Seit November ist die Türkei ohne Regierung - Parteien blockieren sich gegenseitig

Von MARLIES FISCHER
„Laßt uns das Jahr mit einer neuen Regierung beginnen“, wünscht sich die englischsprachige Zeitung „Turkish Daily News“. Aber bei den Politikern in Ankara stieß dieser Appell auf taube Ohren. Bei der Suche nach einer neuen türkischen Regierung blockieren sich die Strippenzieher gegenseitig.Der designierte Ministerpräsident Yalim Erez lehnte es gestern ab, den Auftrag zur Regierungsbildung zurückzugeben. Er werde seine Bemühungen fortsetzen, ein Übergangskabinett auf die Beine zu stellen, sagte der kurdisch-stämmige Politiker und Geschäftsmann.
Der parteilose Abgeordnete reagierte damit auf den Vorstoß der früheren Ministerpräsidentin Tansu Ciller, die eine Regierung unter Erez verhindern will. Der 54jährige aus der ostanatolischen Provinz Van war nämlich in Cillers Kabinett 1995 Handels- und Industrieminister gewesen. Als die Politikerin von der konservativen Partei des Rechten Weges (DYP) zur Machterhaltung eine Koalition mit der mittlerweile verbotenen islamistischen Wohlfahrtspartei (RF) von Necmettin Erbakan einging, trat Erez aus Protest aus der DYP aus und blieb als Unabhängiger im Parlament. Ciller warf dem Abtrünnigen Verstöße gegen die Parteidisziplin vor und schwor Rache.
Deshalb hatte die Ex-Regierungschefin, der immer wieder Korruption und Kontakte zur Mafia nachgesagt werden, am Montag vorgeschlagen, die großen Parteien sollten eine Minderheitsregierung des Sozialdemokraten Bülent Ecevit von der Demokratischen Linkspartei (DSP) unterstützen. Noch vor wenigen Wochen hatte Ciller eine Ecevit-Regierung abgelehnt. Der 73jährige aus Istanbul, schon in den 70er Jahren dreimal türkischer Premier, begrüßte Cillers Sinneswandel und sagte, es sei noch nicht zu spät, eine Regierung zu bilden.
Die Türkei ist seit dem 25. November ohne legitimierte Regierung. Damals war das Kabinett von Ministerpräsident Mesut Yilmaz von der Mutterlandspartei (Anap) wegen angeblicher Verbindungen zur Mafia gestürzt worden.  Staatspräsident Süleyman Demirel hatte zunächst Ecevit mit der Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt, doch der Sozialdemokrat mußte vor Weihnachten mangels Unterstützung aufgeben.
Anschließend ging der Regierungsauftrag an Erez. Ein Übergangskabinett soll das Land bis zu vorgezogenen Neuwahlen am 18. April regieren.  Der Parteienstreit um die Zusammensetzung der Regierung hängt auch mit dem Versuch der verschiedenen Lager zusammen, sich eine gute Ausgangsposition für die Wahlen zu sichern. Die DYP hat 99 Sitze im Parlament, die Anap 136. Stärkste Fraktion mit 144 von 550 Mandaten ist die islamistische Tugendpartei (FP) von Recai Kutan.
Ciller hatte in diesem Zusammenhang mehrfach Staatspräsident Demirel beschuldigt, mit der Erteilung des Regierungsauftrages an Erez die parlamentarische Demokratie beschädigt zu haben. Eher wären sie oder Kutan an der Reihe gewesen.
Allmählich läuft den Politikern in Ankara aber die Zeit davon: Wenn sie sich bis zum kommenden Sonntag nicht auf ein neues Kabinett einigen können, hat Demirel das Recht, eine allein ihm verantwortliche Regierung zu ernennen.
Ein politisches Vakuum kann das Land am Bosporus sich ohnehin nicht leisten. Eigentlich wollte man zu Beginn dieses Jahres ein umfangreiches Entschuldungsprogramm auflegen, das Verhältnis zu Deutschland und zur Europäischen Union (EU) wieder verbessern und sich als wichtigstes Transitland für die Energie-Ressourcen in Zentral-Asien profilieren.  Hinzu kommen die Irak-Krise und der schwelende Konflikt um den Kurdenführer Abdullah Öcalan.
Die mächtigen türkischen Generale, die sich immer als „Garant der Republik und des Landes“ verstehen, haben bereits erklärt, die Türkei brauche mehr denn je Stabilität, und die neue Regierung solle so rasch wie möglich gebildet werden.
Forderungen der Armee an die Politik haben in der Türkei großes Gewicht: 1960, 1971 und 1980 hatten die Militärs vorübergehend die Macht an sich gerissen.