Süddeutsche Zeitung, 28.12.2000

Im Nahen Osten bleibt der Frieden fern

Die politische Ausgangslage scheint günstig für eine Einigung, doch der Hass ist womöglich stärker / Von Heiko Flottau

Wer die Gegenwart verstehen und die Zukunft formen will, muss die Vergangenheit kennen. Etwa das Jahr 1936 im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina. 148 658 Juden waren allein in den Jahren 1931 bis 1935 nach Palästina gekommen. Manche palästinensische Araber hatten den neuen Siedlern zwar ihr Land verkauft. Nun aber fürchteten sie, von den Einwanderern entmachtet zu werden. Der arabische Aufstand, der von 1936 bis 1939 tobte, lässt die erste Intifada (1987 bis 1993) und die jetzige, seit Ende September dauernde Al-Aksa-Intifada als vergleichsweise harmlos erscheinen: Palästinenser sprengten Eisenbahnlinien, zerstörten Elektrizitätswerke und Telefoneinrichtungen, überfielen jüdische Siedlungen und lieferten sich Kämpfe mit britischen Besatzungstruppen. Briten jagten Tausende von palästinensischen Häusern in die Luft. Schon damals nannten die Palästinenser ihre Gefallenen "Märtyrer". Einer der Organisatoren des Aufstandes sprach 1939 von 7000 "Märtyrern", 20 000 verletzten und 50 000 gefangenen Palästinensern.

Krieg der Nobelpreisträger

Seitdem ist der Nahe Osten nicht zur Ruhe gekommen. Alle heutigen Probleme gehen auf die zwanziger und dreißiger Jahre zurück. "Ein Friede als Ende jeglichen Friedens" hat der amerikanische Autor David Fromkin jenes Vertragswerk bezeichnet, das den Ersten Weltkrieg abschloss und die Nachkriegsordnung mit ihrer zersplitterten Staatenwelt schuf. Wie sehr man sich seitdem nach einer Beilegung des Jahrhundertkonfliktes im Nahen Osten sehnt, zeigen fünf Friedensnobelpreise, die an Persönlichkeiten der Region vergeben wurden: 1978 an den israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin und den ägyptischen Präsidenten Anwar el-Sadat für das israelische-ägyptische Abkommen von Camp David. Und 1994 an Israels Ministerpräsident Jitzchak Rabin, Außenminister Schimon Peres und Palästinenserführer Jassir Arafat für die Abkommen von Oslo. Sadat und Rabin mussten für ihren Mut mit dem Leben bezahlen; Begin und Arafat kehrten auf die alten Kriegspfade zurück; und Peres wurde zum einflusslosen, oft belächelten elder statesman. Ein nahöstlicher Kim Dae Jung ist nicht in Sicht. Das Vertragswerk von Oslo scheiterte - sonst wäre es nicht zum zweiten palästinensischen Aufstand seit 1987 gekommen.

Nun, 65 Jahre nach Beginn des ersten Aufstandes, knapp 53 Jahre nach der Gründung des Staates Israel, nach sechs Nahostkriegen (Israels Libanonfeldzug von 1982 und Saddams Überfall auf Kuwait im Jahr 1990 eingerechnet) und drei Monate nach Beginn der zweiten Intifada taucht aus dem Schlachtengetümmel plötzlich wieder einmal ein neuer Hoffnungsschimmer auf: nach US-Vorstellungen soll ein palästinensischer Staat auf jenem Gebiet gegründet werden, das Israel 1967 erobert hat; Ost-Jerusalem (ohne Klagemauer und ohne jüdisches Viertel) soll Hauptstadt werden; die palästinenischen Flüchtlinge der ersten Generation sollen, unter bestimmten Bedingungen, zurückkehren dürfen. Israel hat sogar der Stationierung einer internationalen Streitmacht zugestimmt, die das Jordantal sichern soll.

Nicht in erster Linie die Einsicht in historische Notwendigkeit hat zu diesem auf den ersten Blick viel versprechenden Vorschlag geführt, sondern eine Konstellation, welche aus einem Lehrbuch der Realpolitik stammen könnte: ein abtretender US-Präsident will als Friedensstifter in die Geschichte eingehen; ein israelischer Premier will sein Amt retten; ein palästinensischer Führer will sein Lebenswerk krönen; alle drei wollen ein politisches Comeback des Palästinserhassers Ariel Scharon verhindern.

Ob sich aus dem amerikanischen Rohentwurf bis zu den israelischen Wahlen am 6. Februar ein tragfähiger Friedenspakt entwickeln lässt, ist kaum vorauszusagen. Im ägyptischen Badeort Scharm el-Scheich wird vielleicht schon in dieser Woche eine Vorentscheidung fallen. Besonders die Palästinenser werden auf der Hut sein. Der Friedensvertrag von Oslo hat ihnen zwar eine begrenzte Selbstverwaltung gebracht, aber ihre Bewegungsfreiheit wurde so stark eingeengt, dass viele nicht einmal mehr nach Jerusalem reisen konnten. Die Zahl der Siedlungen im besetzten Gebiet wuchs - obwohl Israel die Räumung der Territorien versprochen hatte. Die Aussicht auf Frieden schreckt vor allem Organisationen wie Hamas und Hisbollah: sie verlören die Grundlage ihrer Existenz. Schon einmal hat die Hamas - 1996 - durch ihre Terrorattentate den Wahlksieg eines kompromissbereiten Politikers (Schimon Peres) verhindert und dafür einem Falken (Benjamin Netanjahu) zur Macht verholfen.

Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass der Kampf zwischen Juden und Palästinensern um das gelobte Land durch ein Abkommen in letzter Minute schlagartig und für immer beendet werden könnte. In einigen Jahrzehnten wird es im historischen Palästina mehr Palästinenser als Juden geben. Spätestens dann könnte die Auseinandersetzung erneut beginnen. Israel, Spätankömmling in einer politisch ohnehin aufgewühlten Region und - auch - als Außenposten des Westens gedacht, wird stets um seine Existenz kämpfen müssen .

Auf friedlichem Wege, in Kooperation mit den Nachbarn, wachsen die Chancen des Überlebens beträchtlich. Doch es gibt noch den alten Feind Syrien. Syrien hat bisher auch unter dem neuen Präsidenten Baschar el-Assad vermieden, sich in einem nahöstlichen Flächenbrand die Finger zu verbrennen. Baschar, hier ganz der Vater, fördert zwar die Nadelstiche der Hisbollah gegen Israel. Und neuerdings versucht Baschar, wie sein Vater, eine panarabische Front gegen Israel aufzubauen. Aber wie der Vater wünscht auch Baschar keinen großen Krieg. Dennoch liegt die Lunte der Hisbollah am nahöstlichen Pulverfass. Sie wird dort bleiben bis Syrien und Israel Frieden schließen. Der hängt an einer Kleinigkeit - an ein paar Kilometern Strand am Ostufer des Sees Genezareth. Vor dem Krieg von 1967 besaßen die Syrer diesen Küstenstreifen. Nun wollen sie ihn zurück.

Was Vater Bush nicht gelang

Doch die Israelis fordern, bisher, den gesamten See, sein Wasser und seine Strände. Doch sollte Israel den Palästinensern einen Staat auf den 1967 besetzten Gebieten zugestehen, dann wäre dies ein guter Vorbote für einen Frieden mit Syrien. Denn auch Syrien fordert die Grenzen vom 4. Juni 1967. Bleibt der Irak. Ein Jahrzehnt nach Ausbruch des zweiten Golfkrieges am 17. Januar 1991 ist Saddam Hussein noch immer an der Macht. Das hätten weder George Bush, noch Bill Clinton, noch George W. Bush erwartet. Doch durch die sechs Wochen des Krieges und zehn Jahre systematischer Bombardements seiner verbliebenen militärischen Installationen durch Amerikaner und Briten ist der Irak so geschwächt, dass er für Israel derzeit keine Bedrohung darstellt. Nachdem der Westen wie die Sowjetunion Saddam hochgerüstet hat, ist der Irak nun durch den Westen auf den militärischen Nullpunkt zurückkatapultiert worden. Trotzdem wird Saddam dem Sohn seines Golfkriegsgegners George Bush Kopf- schmerzen bereiten. Was Vater Bush nicht erreichte, will nun der Sohn schaffen: den Sturz Saddams. Doch auch ihm stellt sich die Frage: Wie?

Der Nahe Osten im Jahre 2001: Solange, wie im Irak, Tyrannen und Diktatoren herrschen, werden die Völker leiden. Solange Politiker wie Ehud Barak und Jassir Arafat vorwiegend aus taktischen Erwägungen handeln, wird wahre Verständigung keine Konjunktur haben: schlechte Zeiten, wenn aus Tagespolitikern keine Staatsmänner und keine Vorbilder für künftige Generationen werden. Denn richtigen Frieden wird es nur dann geben, wenn die beiden Völker, die sich jetzt auf den Straßen Palästinas bekämpfen, von der Gerechtigkeit der neu zu schaffenden Ordnung überzeugt sind.