Neue Zürcher Zeitung, 27. Dezember 2000

Weiter Hungerstreiks türkischer Gefangener

29 Tote bei der Erstürmung von 20 Strafanstalten

ey. Istanbul, 26. Dezember

Trotz der Erstürmung von 20 Gefängnissen, mit der türkische Gendarmerie-Einheiten den Hungerstreiks mehrerer tausend Inhaftierter und den Hungerstreik mehrerer hundert Gefangener beenden wollten, setzten überwiegend linksgerichtete Häftlinge ihre Aktion fort. Am Dienstag hatten sich an dem Todesfasten wieder mehr als 350 Häftlinge beteiligt, an dem Hungerstreik weitere 1600. Bei der «Operation Rückkehr zum Leben», die neu gegründete Sondereinheiten der Gendarmerie am vergangenen Dienstag begonnen hatten, waren 27 Häftlinge und 2 Polizistenums Leben gekommen. Von den Häftlingen erlagen 17 ihren Brandwunden, 10 weitere wurdenwährend der heftigen Kämpfe, die in der Istanbuler Haftanstalt Ümraniye erst am Freitag zu Ende gingen, entweder von Sicherheitskräften oder anderen Häftlingen erschossen. Während der Demonstrationen wurden vor allem in Ankara und Istanbul 259 Personen verhaftet.

Entlassung von Gefängnisdirektoren

Nach offizieller Darstellung haben die Gefangenen von ihren jeweiligen Zellenchefs den Auftrag erhalten, sich während der Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften selbst zu verbrennen. Yavuz Önen, der Präsident der Menschenrechtsstiftung, sagt indessen, die Gefangenen seien den Brandwunden erlegen, die von Polizisten in die Gefängnisse geworfene, sich selbst entzündende Brandbomben ausgelöst hätten. Autopsien an Opfern aus dem Istanbuler Gefängnis Bayrampasa würden diesen Befund stützen. Önen kritisiert ferner, dass die Gefangenen, die in Krankenhäuser verlegt worden sind, dort an ihre Betten angekettet sind.

Justizminister Hikmet Sami Türk hat die Entlassung von 81 Gefängnisdirektoren und Aufsehern bekannt gegeben. Mehr als 170 weitere Strafvollzugsbeamte seien während der Dauer von Ermittlungen suspendiert. Türk begründete die Massnahme damit, dass die Entlassenen gegen Bezahlung das Einschmuggeln von Mobilfunkgeräten und Waffen in die Strafanstalten zugelassen hätten. Der türkische Staat hatte in denvergangenen Jahren wiederholt eingestehen müssen, die Kontrolle besonders über Grosszellen verloren zu haben, in denen nicht selten hundert und mehr Personen untergebracht sind. Daher musste der Staat Geiselnahmen von Gefängniswärtern, Schlachten zwischen rivalisierendenBanden in den Gefängnissen und der Kadererziehung in den Grosszellen tatenlos zusehen. Laut Türk haben Beamte des Strafvollzugs nach der Erstürmung einige Grosszellen erstmals wieder seit 1991 betreten.

Vordergründiges Ziel der Erstürmung war die Beendigung des Todesfastens, das politische Gefangene am 19. Oktober begonnen hatten. Organisiert und koordiniert wurde es von der linksextremistischen «Revolutionären Partei und Volksbefreiungsfront» (DHKP-C). Justizminister Türk hat Belgien abermals aufgefordert, das Hauptquartier dieser Gruppe, auf deren Konto zahlreiche politische Morde in Grossstädten der Westtürkei gehen, in Belgien zu schliessen. Die PKK und andere kurdische Bewegungen haben sich offiziell an dem Todesfasten und dem Hungerstreik in den Gefängnissen nicht beteiligt, wohl aber Kurden als Privatpersonen. Im Gefängnis Bartin befinden sich beispielsweise 20 inhaftierte PKK-Aktivisten weiter in einem unbefristeten Hungerstreik, weitere PKK-Häftlinge unterstützen die Aktion, indem sie sich alternierend am Hungerstreik beteiligen.

Umstrittene Einzelzellen

Die politischen Gefangenen wollen mit ihrem Todesfasten und Hungerstreik erreichen, dass die F-Typ genannten neuen Hochsicherheitsgefängnisse nicht in Betrieb genommen werden. Siefürchten, in den Einzel- und Dreierzellen einfacher Opfer von Folter zu werden und entsprechend Artikel 16 des Antiterrorgesetzes von 1991 völlig isoliert von anderen Häftlingen zu sein. Die türkische Regierung beruft sich indessen darauf, mit dem neuen Gefängnistyp lediglich einer Verpflichtung des Europarats aus den sechziger Jahren nachzukommen.

Entgegen einer Zusage von Minister Türk, die F-Gefängnisse erst nach baulichen Änderungen zu belegen, sind aus den 20 gestürmten Haftanstalten bereits über 600 politische Gefangene in F-Anstalten verlegt worden. Türk begründete diese Massnahme damit, dass die gestürmten Strafanstalten auf Grund des Einsatzes von Bulldozern und auf Grund von Bränden teilweise nicht mehr benutzbar sind. Unterdessen sind nach dem Inkrafttreten einer Teilamnestie die ersten 7000 Gefangenen freigekommen. Von den 73 000 Häftlingen der Türkei gelten etwa 12 000 als politische Gefangene. Sie profitieren nicht von der Amnestie.