Bremer Nachrichten, 23.12.2000

Türkische Links-Extremisten drohen allen Europäern

Reaktion auf Vorgänge in Gefängnissen/Hohes Terror-Potential

Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten

Istanbul. "An alle Europäer!" wendet sich ein flammender Aufruf, den die Unterstützer der hungerstreikenden Häftlinge in der Türkei nach Beginn des Sturms auf die dortigen Gefängnisse veröffentlichten: "Ihr seid mitverantwortlich für dieses Massaker."

Der Aufruf richtet sich wohl nur rhetorisch an die Europäer und in Wirklichkeit eher an die in Europa lebenden Anhänger der linksextremen Häftlinge, denn abschließend werden die Sammelpunkte für Protestaktionen gegen eben diese europäischen Länder und natürlich gegen die Türkei genannt: in Holland, Belgien, Großbritannien und anderswo. Stunden später beginnen europaweit Demonstrationen, Besetzungen und Zusammenstöße.

"Diejenigen unserer Anhänger, die in europäischen Ländern leben, haben auch eine Aufgabe zu erfüllen", hatten die Organisatoren des Hungerstreiks, die Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKC) und zwei weitere linksextreme türkische Splittergruppen, ihre Mitglieder schon vor fünf Wochen angewiesen, als der zunächst begrenzte Hungerstreik zum bedingungslosen "Todesfasten" ausgeweitet wurde. "Wenn ihr den faschistischen Staat zur Rechenschaft ziehen wollt, dann müsst auch ihr den Widerstand der revolutionären Gefangenen unterstützen", hieß es beschwörend. Protestmärsche, Demonstrationen und auch Hungerstreiks seien dazu bestens geeignete Mittel.

Verantwortlich für das Vorgehen der Türkei gegen die "revolutionären Gefangenen" seien alle Länder und Institutionen, die mit der Türkei zusammenarbeiten, begründen die Linksextremisten ihre Proteste in Europa. "Vor allem sind es aber die Europäische Union und das Europäische Parlament, die diesem Massaker direkt oder indirekt Vorschub leisteten, indem sie die Türkei als Beitrittskandidatin aufnahmen." Die EU habe nämlich "die Einführung von Isolationsgefängnissen zur Bedingung für den Beitritt der Türkei gemacht".

Damit beziehen sich die Aktivisten offenbar auf den EU-Kriterienkatalog für die Türkei, der unter anderem verlangt, die türkischen Gefängnisse "internationalen Normen" anzupassen. Denn internationale Normen sehen durchaus Zellen vor, wie die Türkei sie jetzt mit der von den Häftlingen so erbittert bekämpften Gefängnisreform einführen will - und keineswegs die unkontrollierbaren Massenschlafsäle, aus denen sich die Gefangenen nicht herausholen lassen wollen.

Im Visier haben die türkischen Aktivisten neben der Europäischen Union vor allem die Bundesrepublik Deutschland, die etwa im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim selbst "Isolationsfolter gegen politische Gefangene" praktiziere. Deutschland habe die Türkei außerdem beim Bau ihrer neuen Gefängnisse beraten und unterstützt, behaupten die Linksextremisten.

"Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet eine SPD-Bundesregierung jetzt die Ermordung von politischen Gefangenen in der Türkei erleichtert, die gegen Isolationshaft protestieren", heißt es in einem ihrer Traktate. Das aber ohne jede nähere Begründung.

Die deutsche Regierung und die EU seien deshalb an jedem einzelnen Todesfall in dieser Auseinandersetzung mit schuldig, argumentieren die Unterstützergruppen - und warnen finster, dass "auch Europa selbst die Auswirkungen dieses Konflikts zu spüren bekommen wird".

Ob sie diese Drohung wahrmachen können, ist offen. In Deutschland etwa, wo die DHKC als Nachfolgeorganisation der terroristischen Devrimci Sol (Revolutionären Linken) seit 1983 verboten ist, werden ihre gut eintausend dortigen Anhänger vom Verfassungsschutz genauestens beobachtet.

Inwieweit sie zur Gewalt bereit sind, ist dagegen klar: Die Devrimci Sol und ihre Abspaltungen zählen mit Dutzenden Mordanschlägen und zahlreichen Terrorakten auf dem Konto zu den gewalttätigsten Terrorgruppen in Europa.