Bremer Nachrichten, 23.12.2000

Verbergen die Behörden etwas?

Streit um Gewalteinsatz der türkischen Polizei gegen hungerstreikende Häftlinge

Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten

Istanbul. Das Gesicht der Frau war unter der dicken weißen Brandsalbe kaum zu erkennen, ihr Haar versengt. "Die haben uns angezündet", rief sie den Journalisten zu, als sie mit dem Rettungswagen zur Behandlung ins Krankenhaus gebracht wurde. Die Verletzte gehörte zu den linksgerichteten Häftlingen des Istanbuler Hochsicherheitsgefängnisses Bayrampasa, das diese Woche von Soldaten und Polizisten gestürmt wurde, um den Hungerstreik der Insassen zu beenden. Drei Tage nach dem Gewalteinsatz wird die Frage lauter, ob die bei den Kämpfen umgekommenen Häftlinge tatsächlich durch Selbstverbrennung starben, wie die Behörden es darstellen, oder von Soldaten und Polizisten getötet wurden, wie einige überlebende Häftlinge das behaupten. Eine Antwort wird es vermutlich nicht geben, denn beide Parteien in diesem Streit haben ein Interesse daran, der jeweils anderen die Schuld am Tod der Menschen zu geben - und keine der beiden Seiten ist über den Verdacht der Menschenverachtung erhaben.

Die türkischen Sicherheitskräfte setzten beim Sturm auf die landesweit 20 Gefängnisse auf ihre erdrückende Überlegenheit. Schwer bewaffnete Polizisten und Soldaten wurden zu den Gefängnissen gefahren, Schüsse und Explosionen waren über Stunden zu hören. Die Erfahrung zeigt, dass es in der Türkei beim Vorgehen gegen aufsässige Häftlinge kein Pardon gibt. Im vergangenen Jahr starben beim Sturm auf das Ulucanlar-Gefängnis der Hauptstadt Ankara zehn Häftlinge unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen. Die Tatsache, dass Vertreter von Häftlingsverbänden und Familienangehörige nicht an den Autopsien der Leichen teilnehmen durften, nährte damals den Verdacht, dass die Behörden etwas zu verbergen hatten.

Auch diesmal befürchten Unterstützer der Häftlinge, dass sie von den Autopsien ausgeschlossen werden sollen. Dazu kommen Ungereimtheiten bei der Opferbilanz. So sagte ein Anwalt der Häftlinge, allein aus dem Gefängnis Bayrampasa seien 15 Leichen ins Leichenschauhaus gebracht worden - obwohl die Behörden nur von 12 Todesopfern in dieser Haftanstalt sprechen. Angaben aus Regierungsquellen, wonach die Aktion gegen die Gefängnisse bereits seit einem Jahr geplant wurde, verstärken den Eindruck, dass bei der Operation "Rückkehr ins Leben" nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist.

Kritiker mutmaßen, dass die Regierung die Hungerstreiks lediglich zum Anlass nahm, um die politischen Häftlinge in den Gefängnissen des Landes auf einen Schlag in die Zellen der neuen Haftanstalten des "F-Typs" stecken zu können, die von den Gefangenen so erbittert abgelehnt werden. Kaum hatten die Sicherheitskräfte mit der Erstürmung der Gefängnisse begonnen, nahm Justizminister Hikmet Sami Türk sein Versprechen zurück, den "F-Typ" bis zu einer Einigung mit den hungerstreikenden Häftlingen nicht in Dienst zu stellen: Mehrere hundert Häftlinge wurden nach der Einnahme ihres Gefängnisse durch die Polizei schnurstracks in die "F-Typen" verlegt.

Doch nicht nur die Regierung sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, Dunkles im Schilde zu führen. Die türkische Regierung veröffentlichte den Mitschnitt eines abgehörten Handy-Telefonats zweier Häftlinge zu Beginn der Stürmung. "Bevor die uns kriegen, verbrennen wir uns alle", soll ein Häftling dabei gesagt haben. Anhänger der linksextremen Gruppe DHKC, die den Hungerstreik lenkte, geben offen zu, dass die Selbstverbrennung der als "Märtyrer" bezeichneten Häftlinge geplant war.