Badische Zeitung, 23. Dezember 2000

Türkische Menschenrechtsorganisationen kritisieren das Vorgehen und fordern Untersuchung

Polizei überwältigt Hungerstreikende

Von unserem Korrespondenten Jürgen Gottschlich

ISTANBUL. Vier Tage nach dem groß angelegten Sturm auf 20 Gefängnisse in der Türkei ist es der Gendarmerie und Spezialeinheiten der Polizei am Freitagnachmittag offenbar gelungen, auch die letzten Gefangenen im Istanbuler Ümraniye-Gefängnis zu überwältigen.

Am Mittag hatten die Belagerungstruppen begonnen, CS-Gas in den Teil des Gefängnisses zu schießen, in dem die Häftlinge sich verbarrikadiert hatten. Danach drückten Bulldozer die Wände ein. Angeblich sind in Ümraniye 4 Gefangene getötet worden. Damit sind bei der "Operation zur Rettung des Lebens" 24 Gefangene und zwei Soldaten umgekommen. Türkeiweit waren tausende von Soldaten und Sondereinheiten der Polzei im Einsatz. Über 5000 Gasgranaten sind verschossen worden.

Beim letzten großen Hungerstreik von 1996 haben sich 12 Häftlinge zu Tode gehungert. Dass wieder Menschen sterben, sollte angeblich mit der Aktion verhindert werden. Die Bilanz sieht allerdings schlecht aus: 14 Menschen mehr als 1996 mussten ihr Leben lassen. Um den Einsatz dennoch zu rechtfertigen, behaupten Ministerpräsident Ecevit und sein Justizminister Türk, einige der Toten hätten sich selbst verbrannt, andere, die sich ergeben wollten, seien von ihren Mithäftlingen erschossen worden.

Anwälte und Angehörige durften bisher noch nicht die Überlebenden sprechen. Obwohl es also schwierig ist, sich ein genaues Bild von den Ereignissen zu machen, widersprechen Menschenrechtsorganisationen und die Anwaltskammer der offiziellen Version heftig. Sie gehen davon aus, dass mehr als 30 Gefangene getötet wurden, vor allem glauben sie aber nicht mehr an die Version der Selbstverbrennungen. Ein Telefonmitschnitt, mit dem dokumentiert werden sollte, dass Gefangene den Befehl zu Selbstverbrennungen gegeben haben, stellte sich im Nachhinein als äußerst suspekt dar. Vermutlich wurde er von der Polizei fabriziert.

Der türkische Menschrechtsverein fordert deshalb eine unabhängige Untersuchung, die Erlaubnis für Anwälte und Angehörige, die überlebenden Gefangenen zu besuchen und eine Teilnahme an der Autopsie der Toten.