Sonntags-Zeitung (CH), 24.12.2000

«Europa braucht eine Migrationspolitik»

Die 73-jährige Sadako Ogata, die Hochkommissarin für Flüchtlinge, tritt nach zehn Jahren zurück - ein Rückblick auf ihre schwierige Aufgabe

VON PIA WILDBERGER, URSULA ZENGER

Genf - Sadako Ogata, die Flüchtlingshochkommissarin der Vereinten Nationen, fordert Europa zu einer offeneren Migrationspolitik auf. «Europa braucht Menschen», sagt sie in einem ihrer letzten Interviews. Sie tritt auf Ende Jahr nach zehn Jahren an der Spitze der Uno-Flüchtlingsorganisation UNHCR ab.

Als die heute 73-jährige Japanerin ihre Stelle in Genf vor zehn Jahren antrat, hätte sie in den Ruhestand treten und Bücher schreiben können. Stattdessen entschied sich die emeritierte Professorin für einen der undankbarsten und schwierigsten Jobs, der auf dem diplomatischen Parkett überhaupt zu vergeben ist. Zu ihren Verhandlungspartnern zählten fast alle Kriegsherren der Neunzigerjahre. Für viele der weltweit 22 Millionen Flüchtlinge handelte sie Lagerstandorte aus, Hilfsgütertransporte und Rückkehrbedingungen.

Ihre Arbeit als Flüchtlingshochkomissarin hat ihr Lob eingetragen, nachdem sie die Uno-Sonderorganisation in einem kritischen Zustand übernommen hatte. In den letzten Jahren wurden ihr neben zahlreichen Preisen dreizehn Ehrendoktortitel verliehen. Hart kritisiert wurde sie wegen mangelnder Kritik an Russlands Krieg in Tschetschenien. Mitte dieses Monats ist das Flüchtlingswerk der Uno, das UNHCR, 50 Jahre alt geworden. Sadako Ogatas Nachfolger, der ehemalige niederländische Regierungschef Ruud Lubbers, übernimmt das Amt Anfang Januar.

Ogata kehrt nach Tokio zurück zu ihren beiden erwachsenen Kindern und ihrem Mann, einem Banker, der ihr nicht nach Genf gefolgt ist, sie aber häufig an der Rhone besucht hat. Sie freue sich besonders drauf, selber den Tagesablauf zu bestimmen und weniger auf Reisen zu sein. Im Ruhestand will sie ein Buch über die Zeit als Hochkommissarin schreiben.

SonntagsZeitung: Frau Ogata, das UNHCR muss heute jährlich eine Milliarde Dollar für Flüchtlinge aufwenden. Vor 50 Jahren waren es noch 300 000 Dollar. Hat das UNHCR versagt?

Sadako Ogata: Dass unsere Organisation 50 Jahre alt wird und über ein grösseres Budget und grössere Büros verfügt, zeigt lediglich, dass sich die Welt in die falsche Richtung entwickelt. Heute gibt es weit mehr Flüchtlinge und weit mehr Krisenherde als vor 50 Jahren.

In den letzten Jahren hat sich Europa zur Festung entwickelt.

Ogata: Für Asyl Suchende wird es immer schwieriger, überhaupt nach Europa zu gelangen. Kriegsflüchtlinge nimmt Europa aber nach wie vor auf, etwa aus Bosnien und dem Kosovo. Aber ich halte die «Festung Europa» für eine schlechte Idee, und ich glaube auch nicht, dass Europa die Migranten auf Dauer abwehren kann. Europa braucht Güter, Investitionen, Information und eben auch Menschen.

Halten Sie die Unterscheidung zwischen Asyl Suchenden und Wirtschaftsflüchtlingen für sinnvoll?

Ogata: Bis zu einem gewissen Grad ja. Aber die beiden Kategorien überschneiden sich. Manchmal müssen die Menschen aus politischen Gründen fliehen. Manchmal führt ein repressives Regime zu einer schlechten Wirtschaftslage, was viele zur Flucht zwingt. In Europa müssen solche Flüchtlinge einen Asylantrag stellen, um nicht sofort abgewiesen zu werden. Migration wird das grösste Problem dieses Jahrhunderts sein. Europa braucht eine Migrationspolitik.

In der Schweiz werden abgewiesene Asyl Suchende in Handschellen ausgeschafft. Was halten Sie davon?

Ogata: Ausschaffungen müssen menschenwürdig vonstatten gehen. Menschen müssen wie Menschen behandelt werden. Das ist das Mindeste. Andrerseits werden Asylbewerber, die keine Asylgründe geltend machen können, zu Recht abgewiesen.

In den letzten Jahren ist Ihr Budget geschrumpft. Weshalb?

Ogata: Mitte der Neunzigerjahre hatten wir im Gegensatz zu heute zwei riesige Notprogramme laufen, in Bosnien und im Gebiet der Grossen Seen in Afrika. Bei Programmen dieses Ausmasses sind die Regierungen gewöhnlich grosszügig. Die grösste Budgetsenkung mussten wir von der Europäischen Kommission hinnehmen. Als die Situation am schlimmsten war, steuerte sie mehr als 200 Millionen Dollar bei. Dieses Jahr hat sie weniger als 40 Millionen Dollar bereitgestellt. Solche Beitragsreduktionen wirken sich schlimm aus. Im Iran mussten wir beispielsweise die Rückkehrprogramme für Flüchtlinge aus Afghanistan zusammenstreichen und in Tansania die Selbsthilfe-Programme fallen lassen.

Die Beiträge der UNHCR-Mitgliedstaaten sind freiwillig. Wie beeinflussen die Mitglieder die Programme?

Ogata: Manchmal werden die Gelder ausdrücklich für bestimmte Programme zur Verfügung gestellt. Die Programme, an denen die Geberländer grosses Interesse haben, sind besser finanziert. Pro Flüchtling haben wir im Kosovo 135 Dollar zur Verfügung, in Westafrika sind es 35. Dieser Unterschied lässt sich nicht nur auf tiefere Lebenskosten und Klimaunterschiede zurückführen.

Worin hat Ihre Aufgabe in den letzten zehn Jahren bestanden?

Ogata: Ich bezeichne uns als Vermittler. Wir repräsentieren die Opfer, die Flüchtlinge und die Vertriebenen. In deren Namen verhandle ich mit den Regierungen der Aufnahmeländer. Ich bitte um sichere Orte, um die Flüchtlingslager aufzubauen und anderes. Ich verhandle mit den Regierungen der Herkunftsländer der Flüchtlinge über Rückkehrprojekte.

Bei Ihrer Arbeit treffen Sie oft mit unerfreulichen Zeitgenossen zusammen ... Ogata: Das ist Teil des Jobs.

... jene, die für die Probleme verantwortlich sind, mit Kriegsverbrechern. Wie gehen Sie damit um?

Ogata: Mit angeklagten Kriegsverbrechern verhandle ich nicht. Bevor Milosevic vom Kriegsverbrechertribunal angeklagt wurde, habe ich jedoch mehrfach mit ihm verhandelt. Wir sind im Kosovo seit Anfang der Neunzigerjahre präsent. Auch als viele kroatische Serben nach dem Kosovo und Serbien zogen, musste ich deren korrekte Behandlung als Flüchtlinge aushandeln.

Welche Verhandlungen waren besonders schwierig?

Ogata: Jene mit Milosevic waren nicht einfach, und sie wurden mit der immer brutaleren Situation im Kosovo noch schwieriger. Dank den Gesprächen erhielten wir Zugang zum Kosovo. Wir versuchten, die Albaner und die Serben gleichermassen zu unterstützen. Kritiker warfen Ihnen vor, Sie seien mit Russland wegen des Tschetschenienkriegs zu nachsichtig.

Ogata: Als ich letztes Jahr nach Moskau reiste, brachte ich die grosse Besorgnis der internationalen Gemeinschaft und des Uno-Generalsekretärs über die Situation in Tschetschenien zum Ausdruck. Die russischen Kräfte wandten gegenüber der Zivilbevölkerung übermässig Gewalt an. Die Russen empfinden die Bemerkungen des Westens hingegen als Kritik, der keine Taten folgen. Salopp ausgedrückt sagen die Russen: Haltet die Klappe, wenn ihr nichts tun könnt.

Sie sind in Tschetschenien nicht vor Ort.

Ogata: Keine Hilfsorganisation ist dort präsent. Aus Gründen der Sicherheit können wir niemanden hinschicken. Einer meiner Kollegen wurde entführt und mehr als 300 Tage lang festgehalten.

Ziehen Sie deshalb aus Afghanistan ab?

Ogata: Die Situation hätte für die Mitarbeiter sehr gefährlich werden können, weil der Sicherheitsrat Sanktionen gegen Afghanistan beschlossen hat. Uno-Generalsekretär Kofi Annan hat sich besorgt über die Sanktionen geäussert, und diesen Bedenken schliessen wir uns an. Die meisten Leute beschäftigen wir aber in Flüchtlingslagern im Iran und in Pakistan.

Sollte die Uno über eine eigene ständige Eingreiftruppe verfügen?

Ogata: Realistischer als eine ständige Eingreiftruppe ist wohl die Schaffung von Bereitschaftstruppen für friedenssichernde Aufgaben. Doch heute zögern viele Mitgliedstaaten, Soldaten zur Verfügung zu stellen, weil sie um deren Sicherheit fürchten. Während die Mitgliedstaaten abwarten, verschlimmert sich die Situation. Heute werden Truppen bilateral, regional oder überregional zur Verfügung gestellt. Ich glaube, in einer so komplexen Welt wie der unseren werden auch die Antworten auf die verschiedenen Situationen unterschiedlich ausfallen.

Sie putzen die Scherbenhaufen der Politik auf. Hatten Sie nie genug davon?

Ogata: Ich bin für die Scherbenhaufen ja nicht verantwortlich.

Immerhin wird Ihr Job als schwierigster und undankbarster auf dem diplomatischen Parkett bezeichnet.

Ogata: Da ist etwas dran. Aber meine Mitarbeiter sind mit dem Herzen dabei, weil sie wissen, dass ihre Arbeit über Leben und Tod entscheidet. Frustrierend ist, wenn man die Arbeit nicht machen kann.

Als Sie mit 63 Jahren dieses Amt antraten, hätten Sie sich in den Ruhestand zurückziehen können. Weshalb haben Sie diese Herausforderung angenommen?

Ogata: Eine solche Aufgabe wird einem im Leben nicht oft angetragen. Ich hatte bereits früher mit der Uno zu tun. Da sagte ich mir, ich werde es versuchen. Aber ich dachte nicht, dass ich so lange im Amt bleiben und dieses so schwer sein würde. Welcher Moment war der schwierigste?

Ogata: Die Flucht von 1,2 Millionen Menschen in vier Tagen in Ruanda war wohl das dramatischste Ereignis.

Sie beschäftigen sich täglich mit dem Krieg. Haben Sie Hoffnung auf eine bessere Zukunft?

Ogata: Ja. Sogar in Ländern wie Ruanda, wo die ethnischen Konflikte zwischen Tutsi und Hutu zu grossem Blutvergiessen geführt haben, leben die Menschen langsam wieder zusammen. Kriegsverbrechertribunale helfen auf diesem Weg. Sie sind nötig. Aber sie lösen nicht alle Probleme. Das Zusammenleben ist nicht unmöglich, aber es braucht Zeit.