taz 22.12.2000

Traumasymptome in Palästina

Palästinensische Hilfsorganisationen warnen vor den Auswirkungen der israelischen Belagerung auf die Bevölkerung. Die physische und psychische Gesundheit vieler Menschen ist stark gefährdet. Leidtragende sind vor allem die Kinder

aus Jerusalem ANNE PONGER

Die physische und psychische Gesundheit der palästinensischen Bevölkerung ist durch die fast dreimonatige israelische Abriegelung der besetzten Gebiete und die Belagerung hunderter Dörfer extrem gefährdet. Das betonten gestern Vertreter palästinensischer regierungsunabhängiger Organisationen (PNGOs), einem Zusammenschluss von 80 privaten palästinensischen Hilfsorganisationen, bei einer Pressekonferenz in Ostjerusalem.

Bereits jetzt seien 320 Palästinenser getötet und nahezu 11.000 verwundet worden, von denen rund 1.500 permanent behindert bleiben würden, sagte die Ärztin Dr. Lama Jamjoun. 43 Krankenwagen seien von Soldaten oder Siedlern beschädigt, 80 Ärzte und Krankenpfleger verletzt, Krankenhäuser in Ostjerusalem, Bethlehem und Hebron beschossen worden. Verwundete, Kranke und schwangere Frauen in belagerten Dörfern hätten keine Möglichkeit, in Hospitäler zu gelangen. Fünf Menschen seien bereits an Straßensperren gestorben, als Soldaten ihnen die Passage verweigerten. Die Abriegelung blockiere auch die Medikamentenversorgung, Zuckerkranke bekämen keine Dialyse, Kinder keine Impfungen mehr.

Angst vor Tod, Verwundung, Vertreibung und Verlust von Angehörigen haben zudem verheerende psychologische Auswirkungen, vor allem auf Kinder. Rana Nashashibi vom Palästinensischen Beratungszentrum wies darauf hin, dass chronische Magenschmerzen, Hautausschlag, Schlaflosigkeit und Konzentrationsmangel als Traumasymptome auftauchen.

Da Eltern bei Raketenbeschuss und Bombardierungen keinen Schutz bieten könnten, sei das Sicherheitsgefühl der Kinder vollständig gestört, berichtete Nashashibi weiter. Im israelisch besetzten Teil der Stadt Hebron im Westjordanland, wo 40.000 Palästinenser unter Ausgangssperre leben, haben die Kinder seit über zwei Monaten keinen Unterricht mehr. An anderen Orten hätten sie Angst, auf dem Schulweg angeschossen zu werden. Man habe beobachtet, dass der Wunsch zur Teilnahme an agressiven Demonstrationen mit dem Ausmaß der Traumatisierung wachse.

Die "Bantustanisierung" des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens, bei der palästinensische Städte und Dörfer durch jüdische Siedlungen, Umgehungsstraßen und israelische Armeeposten voneinander abgetrennt seien, erzwinge machmal stundenlange Umwege für geografisch kurze Strecken, hob Dr. Mustafa Barghouti von der Union medizinischer Hilfskomitees hervor. Die Abriegelungen hätten katastrophale Auswirkungen auf die palästinensische Wirtschaft, die seit Ende September bereits 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts eingebüßt habe, bei einer Arbeitslosigkeit von 40 Prozent und mehr als einer Million Menschen unter der Armutsgrenze.

Offene Kritik übten die Vertreter der Organisationen an dem Versuch der palästinensischen Führung, in Washington erneut mit der israelischen Seite zu verhandeln. Die Führungsspitze habe jeden Kontakt mit dem Volk verloren, betonte Barghouti.

"Viele Palästinenser fordern Neuwahlen, nachdem diese Führung seit Mai 1999 kein Mandat mehr hat", sagte Barghouti. "Verhandlungen auf der Basis von Camp David werden den Volksaufstand nicht beenden, sondern nur ein totales Ende der Besatzung, ein Abbruch aller Siedlungen, eine Einbeziehung der Bevölkerung bei wichtigen Entscheidungen. Das palästinensische Volk erträgt diese Ungerechtigkeit nicht mehr!"