junge Welt, 22.12.2000

Tod auf Raten

Türkei: Regierung verteidigt anhaltende Militäraktion gegen Gefangene.

Von Rüdiger Göbel

Am dritten Tag wurde auch in Canakkale der Gefangenenwiderstand blutig niedergeschlagen. Bei der Polizei- und Militäraktion gegen Gefangene in dem westtürkischen Gefängnis sind am Donnerstag nachmittag nach Behördenangaben drei Häftlinge getötet worden. Nach Angaben des Innenministeriums wurden 16 Gefangene verletzt. Nach Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu stellten sich rund 160 hungerstreikende Gefangene, die den Sturm überlebt hatten, fünf Stunden nach Beginn des Großeinsatzes der Polizei. Im Istanbuler Gefängnis Umraniye dauerte der Widerstand der Gefangenen weiter an. Es ist die letzte von insgesamt 20 Haftanstalten, in der sich politische Gefangene seit mehr als zwei Monaten im Hungerstreik befinden, die noch nicht wieder unter Kontrolle der Sicherheitskräfte ist.

Am Dienstag hatten starke Polizeikräfte und die Armee mit dem landesweiten Sturm auf die Gefängnisse begonnen. Dabei gab es nach Angaben der Regierung in Ankara bis Donnerstag 22 Tote. Menschenrechtsorganisationen zufolge liegt die Zahl der Getöteten weitaus höher. Ein Sprecher der Gefangenenhilfsorganisation Tayad betonte, allein in der Haftanstalt Bayrampasa seien mindestens 21 Menschen getötet worden. Die Sprecherin des »Komitees gegen Isolationshaft« (IKM), Seldas Delgiz, bestätigte gegenüber jW, Kenntnis von 30 getöteten Gefangenen zu haben, die alle namentlich bekannt seien. Beim Sturm auf Canakkale seien am Donnerstag mindestens acht Gefangene ums Leben gekommen, nicht drei, wie von Ankara behauptet.

Im Gefängnis Umraniye gingen am Donnerstag nachmittag weiterhin mehrere hundert schwer bewaffnete Polizisten gegen 423 verbarrikadierte Häftlinge vor. Bis Redaktionsschluß dauerte der Widerstand der Gefangenen an. Landesweit protestierten über 1000 Häftlinge seit zwei Monaten gegen den Plan der Regierung, in neuen sogenannten F-Typ-Gefängnissen die Zahl der Insassen auf ein bis drei pro Zelle zu reduzieren.

In kaum zu überbietendem Euphemismus erklärte der türkische Justizminister Hikmet Sami Türk am Donnerstag, die Sicherheitskräfte ließen Vorsicht walten, um kein weiteres Menschenleben zu gefährden. Ministerpräsident Bülent Ecevit meinte allen Ernstes, die Soldaten würden »langsam und gefühlvoll« vorgehen. Allein: Die Schwerverletzten und Toten, die aus den Haftanstalten getragen werden, sprechen dagegen für einen geplanten Tod auf Raten. Den Angehörigen wurde es bisher nicht gestattet, die toten Gefangenen zu sehen.

Wurde anfangs in den türkischen Medien noch die Regierungsversion untermauert, wonach sich alle ums Leben gekommenen Gefangenen selbst angezündet hätten, wird mittlerweile auch in bürgerlichen Blättern von einer »Selbstmordlegende« gesprochen. So schrieb eine bekannte Tageszeitung von zwei Gefangenen, die mit schweren Schädelverletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert wurden, daß sie von den Soldaten fast totgeprügelt worden seien. IKM-Angaben zufolge haben sich lediglich die beiden Gefangene Ahmet Ibili und Mesut Örs selbst verbrannt. Die übrigen Häftlinge seien von den eindringenden Sicherheitskräften mit Benzin übergossen und angezündet worden.

Das türkische Parlament stimmte unterdessen am Donnerstag erneut dem umstrittenen Amnestiegesetz zu. Sobald Präsident Ahmet Necdet Sezer das Gesetz unterschrieben hat, kann die Hälfte der rund 72 000 Gefangenen freigelassen werden. Politische Häftlinge sind im Gegensatz zu Mördern und Räubern von der entsprechenden Amnestieregelung allerdings ausgenommen.