taz 21.12.2000

Lang geplante Aktion

Ankara versucht die Erstürmung der Knäste als Erfolg zu verkaufen. Jedoch ist die Zahl der Todesopfer genauso unklar wie das Schicksal der Häftlinge

ISTANBUL taz "Der Staat ist rein", jubelte das auflagenstärkste türkische Massenblatt Hürriyet in seiner Mittwochsausgabe und brachte damit wohl die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung auf den Punkt. Mit dem Sturm auf zwanzig Haftanstalten habe der Staat die Konsequenzen daraus gezogen, dass ihm die Kontrolle darüber entglitten sei.

Der Preis für diesen Einsatz ist noch nicht abzusehen. Gestern wurde aus zwei Haftanstalten, in Ümraniye in Istanbul und in Canakkale, Widerstand der Gefangenen gemeldet, sodass sich die Opferbilanz noch ändern dürfte. Auch herrscht Verwirrung über die Anzahl der Todesopfer und die Umstände, unter denen sie umkamen. Offiziell werden 17 tote Gefangene und drei tote Soldaten genannt, Menschenrechtsorganisationen gehen von wesentlich mehr Toten aus.

Wie viele erschossen wurden oder durch Selbstverbrennung starben, ist unklar. In Bayrampasa sollen sich 48 Häftlinge aus Protest gegen die Erstürmung angesteckt haben. Zwölf sollen den Verletzungen erlegen sein.

Die genaue Zahl der Toten wird aber so lange umstritten sein, wie unklar ist, wo die Gefangenen sind. Offiziell sind 293 in Krankenhäuser verlegt worden. Ein Teil der Gefangenen wurde in zwei bereits fertig gestellte der elf umstrittenen F-Typ-Gefängnisse, gegen die sich der Streik vor allem richtete, in Edirne und Sincan, verlegt. Auf die Frage, ob diese Verlegung nur vorübergehend sei, drückte sich Justizminister Hikmet Sami Türk um eine Antwort, während Premier Ecevit behauptete, der Widerstand der Gefangenen hätte klar gemacht, dass die neuen Gefängnisse absolut notwendig seien.

Tatsächlich hat man den Eindruck, dass die Beendigung des Hungerstreiks von mehr als tausend Gefangenen nur ein Vorwand für eine Aktion war, die lange bevorstand. Stolz berichtete Innenminister Tantan, dass seine Spezialeinheiten seit Monaten den Sturm geprobt hätten und daher so erfolgreich gewesen seien. Erbost reagierten einzelne Parlamentarier, die im Knast in Bayrampasa versucht hatten, die Häftlinge zu überzeugen, dass die Regierung auf ihre Kritik eingehe und sie den Hungerstreik beenden sollten.

Gestern war von dem Versprechen, die Größe der Zellen in den neuen Gefängnissen für maximal drei Gefangene, in Absprache mit der Ärzte- und Anwaltskammer erneut zu diskutieren und entsprechend zu ändern, keine Rede mehr. Auch der Spruch des Justizministers, man werde vor einer Belegung der F-Typ-Gefängnisse das Antiterrorgesetz, das in bestimmten Fällen eine Isolationshaft vorschreibt, ändern, ist Schnee von gestern. Stattdessen stellte Ecevit fest: "Die Zeit des Traktsystems ist beendet." JÜRGEN GOTTSCHLICH