junge Welt, 21.12.2000

Keine Ruhe nach dem Sturm

Türkei: Militäraktion gegen streikende Gefangene dauert an. Mehr als 40 Tote. Ecevit spricht von Erfolg

Mindestens 40 Tote und Hunderte Verletzte, das ist die vorläufige Bilanz des Angriffs türkischer Sicherheitskräfte auf die hungerstreikenden politischen Gefangenen in zwanzig Knästen. Diese Zahlen wurden von der Nachrichtenagentur Anadolu am Mittwoch veröffentlicht, die sich auf Angaben humanitärer Organisationen in der Türkei beruft. In den offiziellen Verlautbarungen der Regierung in Ankara ist von zwei getöteten Einsatzkräften die Rede und von 15 toten Gefangenen, die sich in der Haftanstalt Bayrampasa selbst verbrannt haben sollen. Im ganzen Land protestierten Tausende Menschen gegen die Stürmung der Gefängnisse. Hunderte Demonstranten wurden festgenommen.

Die »Operation«, wie das brutale Vorgehen türkischen Polizisten und Soldaten gegen die politischen Gefangenen offiziell genannt wird, dauerte am Dienstag bis spät in die Nacht an, in Umraniye und Canakkale wurde sie am Mittwoch fortgesetzt. Dort konnten sich die Gefangenen in einem Gefängnistrakt verbarrikadieren. Trotz des anhaltenden Widerstandes in den beiden Haftanstalten sprach Ministerpräsident Bülent Ecevit am Mittwoch nachmittag von einem »wichtigen Erfolg«. »Wir haben die Gefängnisse von Terroristennestern gesäubert«, so der Premier. Die Militäraktion habe bewiesen, daß die Gefangenen »gegen den türkischen Staat nicht gewinnen können«.

Ob die festgestellten Verbrennungen den Gefangenen zugefügt wurden oder ob sie sich selbst angezündet haben, vermag noch niemand genau zu sagen. Einerseits hatten die Gefangenen angedroht, sich im Falle eines Angriffes anzuzünden, andererseits mehren sich Berichte, daß sie nach Strürmung der Gefängnisse mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt wurden. Dem türkischen Fernsehsender NTV gelang es, Aufnahmen von einer Frau zu machen, die aus Bayrampasa in ein Krankenhaus verlegt wurde. Als sie vom Krankenwagen heraus auf einer Bahre in das Hospital getragen wurde, schrie sie »Sie haben uns bei lebendigem Leib verbrannt. Sechs Frauen sind schon tot.«

821 Gefangene seien am Dienstag in Krankenhäuser gebracht worden, teilte die Regierung in Ankara mit. Dort droht ihnen nun die Zwangsernährung. Hunderte Häftlinge wurden unterdessen bereits in die umstrittenen neuen Gefängnisses des »F-Typ« verlegt. Mit ihrem Hungerstreik hatten die Gefangenen genau dies zu verhindern versucht. Die Unterbringung der Gefangenen in Isolationszellen sei nur vorübergehend, teilte der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit am Dienstag abend der Presse mit. Der Staat sei zu diesem Schritt gezwungen worden, erläuterte Justizminister Hikmet Samir Türk. Die beiden waren von Journalisten darauf hingewiesen worden, daß sie noch am vergangenen Samstag erklärt hatten, die Einführung der F-Typ-Gefängnisse vorerst zu verschieben, da Voraussetzung für die Realisierung dieses Projektes eine umfassende gesellschaftliche Diskussion sei, deren Ergebnis erst einmal abgewartet werden müsse.

Der türkische Sender NTV strahlte unterdessen ein längeres Interview mit Mehmed Berakoglu, einem Abgeordneten der islamischen Fazylet-Partei, aus. Er ist Mitglied der Menschenrechtskommission des türkischen Parlamentes, die in den vergangenen zehn Tagen versucht hatte, zwischen den Gefangenen und der Regierung zu vermitteln. Noch am Montag war die Parlamentariergruppe bei den Hungerstreikenden. Berakoglu zufolge seien die Gespräche mit den Gefangenen gut verlaufen, die meisten Probleme hätten vorläufig geklärt werden können. So hätten die Hungerstreikenden beispielsweise die Abschaffung der Staatssic herheitsgerichte (DGM) gefordert. Doch das müsse in nächster Zeit sowieso passieren, da diese Gerichte vom Europäischen Gerichtshof (EUGH) in Strasbourg für illegal erklärt worden seien und ihre Fortexistenz die EU-Aufnahme der Türkei gefährden würde. Auch bei den anderen Problemen seien Kompromisse erzielt worden. Die Verhandlungen seien an der Forderung nach einer Garantie auf Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit auch in den neuen Gefängnissen gescheitert. Hier sei die Regierung - den öffentlichen Erklärungen des letzten Wochenendes zum Trotz - nicht vom Plan abgewichen, das Kleinzellensystem umgehend einzuführen.

Es sei schon erstaunlich, so Berakoglu in NTV weiter, daß Ecevit und Türk im Zusammenhang mit der nun begonnenen Zwangsverlegung in die F-Typ-Gefängnisse von einer »vorübergehenden Maßnahme« sprächen, zu der die Regierung gezwungen worden sei, während der türkische Innenminister Sadettin Tantan - bisher unwidersprochen - behauptet, die Aktion sei ein Jahr lang vorbereitet worden. Die Regierung sei an dem Punkt F-Typ-Gefängnisse in keiner Weise dialogbereit gewesen. Die Menschenrechtskommission sei vor der Stürmung der Gefängnisse nicht angehört worden, im Gegenteil: Ecevit hätte sich in den letzten drei Tagen sogar geweigert, deren Mitglieder zu empfangen.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International rief am Mittwoch die Regierung in Ankara zum Gewaltverzicht auf. Der Einsatz »exzessiver ewalt« sowie von Folter und Mißhandlungen von Häftlingen müsse aufhören, hieß es in einer in Ankara verbreiteten Erklärung. Die deutsche Sektion der »Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung« (IPPNW) forderten die türkische Regierung auf, »das Recht auf Leben der Gefangenen« zu achten. Die PDS sprach am Mittwoch davon, »die Regierung in Ankara blockiert sich selber in bezug auf Demokratisierung und Menschenrechte«. Statt als Beitrittskandidat zur EU die politischen Probleme zu lösen, richte sie »Massaker« in den Gefängnissen an. Mehrere Gefangene seien auf grausame Art und Weise ermordet worden.

Auch die Rechtshilfeorganisation Rote Hilfe sprach in einer Stellungnahme am Mittwoch von einem »Massaker«, das an den türkischen Gefangenen angerichtet werde, und rief zu Protesten auf. In Frankfurt am Main und in Hamburg wurden von Unterstützern der türkischen Gefangenen Büros der SPD und der Grünen besetzt.

Birgit Gärtner/Rüdiger Göbel