Neue Zürcher Zeitung (CH), 20.12.2000

Die Knesset stimmt gegen ihre Auflösung

Netanyahu verzichtet auf eine Kandidatur gegen Barak

Das israelische Parlament hat Benjamin Netanyahu, der erneut für das höchste Regierungsamt kandidieren wollte, eine Abfuhr erteilt. Die Knesset wird nicht aufgelöst. Am 6. Februar werden sich Ehud Barak und Ariel Sharon gegenüberstehen. Aber auch der frühere Regierungschef Shimon Peres erwägt nochmals eine Kandidatur.

gsz. Jerusalem, 19. Dezember

Das israelische Parlament hat dem ehemaligen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu, der sich für die Wahl am 6. Februar als Kandidat für das höchste Regierungsamt präsentieren wollte, Montag nachts eine Abfuhr erteilt. Das sogenannte «Bibi-Gesetz», das es ihm erlaubt, sich alsKandidat zu präsentieren, obwohl er kein Knessetmitglied ist, wurde zwar mit 65 Stimmen gegen 45 angenommen. Doch einige Minuten später lehnte das Plenum eine Auflösung des Parlaments in zweiter Lesung mit 69 Stimmen gegen 49 Stimmen ab.

Kompliziertes Kalkül

Damit war Netanyahu der Weg zur Wahl verbaut, denn er hatte vorher mit Nachdruck erklärt, dass er wegen der Verzettelung der Kräfte in der Knesset nur dann in den Ring steigen würde, wenn auch das Parlament neu bestellt würde. Da er das sogenannte Bibi-Gesetz vehement abgelehnt hatte, konnte er nun von ihm keinen Gebrauch machen, ohne das Gesicht zu verlieren. Nach den Abstimmungen in der Knesset und Netanyahus Bekanntmachung, dass er unter diesen Bedingungen nicht kandidieren wolle, wurde die für Dienstag vorgesehene Primärwahl im Likud überflüssig. Der jetzige Parteiführer Ariel Sharon wird somit in sieben Wochen mit Ehud Barak das Kräftemessen aufnehmen.

Das Drama um Netanyahu begann am Montagnachmittag, als der «Rat der Weisen» der orthodoxen Shas-Partei sich gegen die Auflösung der Knesset aussprach. Netanyahu hatte massiven Druck ausgeübt, doch ohne Erfolg. Die mit siebzehn Abgeordneten in der Knesset vertreteneShas dachte nicht daran, ihre Position als drittstärkste Partei für Netanyahu aufs Spiel zu setzen. Auch ein anderer Parteichef des Likud sei der Partei als zukünftiger Ministerpräsident genehm, liess das Rabbiner-Gremium nachher wissen. Dabei schwang ein Unterton der Entrüstung über die Arroganz des ehemaligen Idols mit, das annahm, dass die Rabbiner auf seine blosse Aufforderung hin auf seinen Kurs einschwenken würden. Das Schicksal der Knesset war damit besiegelt, denn ohne die Unterstützung von Shas hatte das Gesetz zur Auflösung des Parlaments keine Chance mehr.

Baraks Kalkül scheint aufgegangen zu sein. Nachdem die Auflösung der Knesset in erster Lesung schon beschlossen worden war, hatte er mit der Erklärung, dass er vom Volk ein neues Mandat erhalten wolle, seine Demission eingereicht. Mit diesem Schritt wurde eine Auflösung der Knesset überflüssig, und Netanyahu wurde wegen einer Klausel im Wahlgesetz unwählbar. Um aber nicht als Mann zu erscheinen, der den Zweikampf mit Netanyahu fürchtet, unterstützte Barak das «Bibi-Gesetz» und wies Parteikollegen an, das Gleiche zu tun. Doch Netanyahu ging aufs Ganze und verlangte generelle Neuwahlen. Er hatte sich jedoch verrechnet. Sein Manöver wird dereinst bloss noch als ein zehntägiges Zwischenspiel in Erinnerung bleiben. Übrigens halten sich trotz Dementis Gerüchte, laut denen Barak und Sharon Netanyahu um jeden Preis die Rückkehr an die Macht verbauen wollten. Barak musste mit Grund befürchten, dass er der populistischen Demagogie Netanyahus nicht gewachsen sei.

Galgenfrist nutzen

Sharon seinerseits war entrüstet, dass Netanyahu, der nach seiner Wahlniederlage vor eineinhalb Jahren alles fallenlassen hatte - sowohl diePolitik als auch die Parteigeschäfte -, nun als Retter in der Not die von Sharon sanierte Partei wieder an sich reissen wollte. Aus diesem Grund sollen die beiden Politiker mit Shas einen Pakt gegen Netanyahu eingegangen sein. Allerdings war Baraks Manöver nicht ganz korrekt. Die Möglichkeit einer Demission des Ministerpräsidenten,bloss damit er sich handkehrum wieder zum Kandidaten erklärt, läuft dem Geist der entsprechenden Gesetze zuwider.

Höchstwahrscheinlich wird nach dem Wahlsieg des einen, sei es Barak oder Sharon, der andere zu einer Regierung der nationalen Einheit zugezogen. Sharon hatte vor dem Zentralkomitee desLikud erklärt, dass er Barak zum Verteidigungsminister berufen werde. Somit stellt sich die Frage, was sich eigentlich ändern wird. Gespräche zwischen Barak und Sharon waren schon vor der Ankündigung der Wahl im Gange, führten aber wegen unterschiedlicher Anschauungen zum Friedensprozess nicht zu einer Einigung. Dass dieGalgenfrist, die Barak zur Aushandlung eines Abkommens mit den Palästinensern erhielt, genutztwerden kann, und dass das Referendum schliesslich positiv ausgeht, ist keineswegs gesichert. Ob ein erneutes Mandat für Barak, falls er gewählt wird, Sharons Opposition aufweichen wird, ist ebenfalls ungewiss.

Schliesslich stellt sich auch noch die Frage, ob die «alt-neue» innenpolitische Situation, die voraussichtlich entstehen wird, nicht auch ohne den Umweg über eine vorgezogene Neuwahl des Regierungschefs hätte erreicht werden können. Das Gleichgewicht der Kräfte und die Übermacht kleinerer Parteien wird weiter bestehen bleiben. Überdies wird sich der jetzt gewählte Ministerpräsident schon in spätestens zwei Jahren abermals den Wählern stellen müssen, wenn die Legislative auf alle Fälle erneuert werden muss.

Aber bevor es überhaupt so weit sein wird, müssen die Kandidaten noch einen Test bestehen. Shimon Peres trägt sich mit dem Gedanken, sich als Kandidat des linken Friedenslagers für das Amt des Ministerpräsidenten zur Verfügung zu stellen. Laut Meinungsumfragen, die zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht sehr aussagekräftig sind, scheint er bei den Wählern mehr Anklang zu finden als Barak. Sollten sich die drei Kandidaten zur Wahl stellen, wird keiner von ihnen das benötigte absolute Mehr erreichen. Möglicherweisewürden sich dann Peres und Sharon in einer zweiten Wahlrunde am 20. Februar gegenüberstehen. Die Chancen dafür sind aber eher gering.