Frankfurter Rundschau, 20.12.2000

Wahl zwischen Krieg und Frieden

Vor der israelischen Parlamentswahl scheint alles möglich - entscheidend ist vielleicht die Frage, ob Baraks Maximalofferte der palästinensischen Minimalforderung nahe kommt

Von Inge Günther

Ein absurdes Theater, das israelische Parlament. Vor einem Monat noch stimmte die Knesset mit überwältigender Mehrheit für die Selbstauflösung und damit für allgemeine Neuwahlen. Als es jetzt ernst wurde und das entscheidende Votum über dieselbe Sache anstand, ließen sich die meisten Parlamentarier von Eigeninteressen leiten. Wer kann schon genau wissen, ob er wieder einen gut dotierten Abgeordnetensitz erhalten würde. So kam es zur paradoxen Situation, in der erklärte Anhänger des früheren Regierungschefs Benjamin Netanyahu - wie etwa die religiös-orientalischen Schasniks - seinen ausdrücklichen Wunsch, den Neuwahlentwurf zu unterstützen, verweigerten. Stattdessen servierten sie ihm das auf die Schnelle fabrizierte "Netanyahu-Gesetz", das ihm eine Teilnahme am Rennen um den Premiersposten auch ohne Mandat erlauben würde, aber unter seiner Ehre ist.

Also warf "Bibi", um sein neu kreiertes Image eines prinzipientreuen, charakterfesten Kerls bemüht, das Handtuch. Seine Zeit wird noch kommen. Sollen sich doch Ehud Barak und Ariel Scharon mit dem eigennützigen und eigensinnigen Parlament in bekannter Besetzung herumschlagen.

Die beiden nun benannten Kandidaten von Labour und Likud markieren zwar entgegengesetzte Pole. Premier Barak steht für den Kompromisswillen mit den Palästinensern. Likud-Boss Scharon dagegen ist das Symbol der Unnachgiebigkeit und der harten Hand. In gewisser Weise läuft das auf eine Schicksalswahl zwischen Krieg und Frieden hinaus. Doch so groß sind die Verschiedenheiten auch wieder nicht, als dass nach dem Wahltag, wenn alles ausgezählt ist, der Sieger mit dem Verlierer nicht doch gemeinsame Sache machen könnte, sprich: eine große Koalition.

Ein anderer Aspekt kommt hinzu. Nach jetzigem Befund repräsentieren die zwei keinesfalls das gesamte politische Spektrum im Staate Israel. Die arabische Minderheit, ein knappes Fünftel des Wahlvolks, wird weder für den einen noch den anderen stimmen. Für Scharon nicht, weil der seit den Tagen des Massakers in den palästinensischen Flüchtlingslagern von Sabra und Schatilla bis hin zu seinem provokativen Auftritt auf dem Tempelberg als Hassobjekt gilt. Und für Barak nicht, seitdem der die Rebellion der arabischen Israelis - denen er seinen Wahlsieg 1999 mitverdankte - blutig niederschlagen ließ. Außerdem sind nicht wenige jüdische Linke wegen seines glücklosen und oft zweideutigen Vorgehens im Nahost-Friedensprozess auf Distanz zu Barak gegangen.

Ein dritter Kandidat wäre mithin schon aus demokratischen Gesichtspunkten ein Gewinn. Barak und Scharon stehen für die Auswahl von Mitte links bis außen rechts. Der Elder Statesman und Vordenker des Oslo-Prozesses, Schimon Peres, könnte für das linke Friedenslagers eine glaubwürdige Alternative darstellen. Noch ist freilich offen, ob sich Peres, dem der Ruf eines notorischen Wahlverlierers anhaftet, noch einmal einen Wahlkampf um die Macht zumutet.

Egal welche Entscheidung Schimon Peres trifft: Sie wird einen Hinweis darauf liefern, wie er die Chancen Baraks einschätzt, einen neuen, ernsthaften Dialog über einen Friedensschluss mit PLO-Chef Yassir Arafat zu beginnen. Nur wenn Peres an Baraks ehrliche Überzeugungen glaubt, wird er ihn am Ende unterstützen.

Was aber will Barak? Auch für andere Beteiligte im Friedensprozess stellt sich diese große Frage. Dass er sein Amt riskiert hat, um den Palästinensern in Camp David ein weiter reichendes Angebot als alle seine Vorgänger zu machen, steht außer Zweifel. Aber ebenso ist klar, dass er gleichzeitig den Siedlungsbau im Westjordanland vorantrieb. Auch sein Vorgehen gegen die palästinensische Intifada ist von Ambivalenz geprägt. Durch Israels militärische Stärke hat er Arafat zur Einsicht in einen Gewaltverzicht zu zwingen versucht. Den Palästinensern freilich brachte Barak damit nicht Frieden, sondern fachte den alten Hass neu an.

Jetzt soll in Verhandlungen unter Zeitdruck - bedingt durch die israelischen Premierswahlen sowie das bevorstehende Amtsende des US-Chefvermittlers Bill Clinton - auf einmal der große Durchbruch gelingen. Von einem verbesserten Angebot, einer Art "Camp David plus", ist unter Barak-Getreuen die Rede. Auf dem Papier macht sich das nicht schlecht, wenn nun den Palästinensern eine volle Kontrolle (nicht unbedingt Souveränität) über die arabischen Viertel Ost-Jerusalems sowie die moslemischen Heiligtümer auf dem Haram al-Scharif, dem jüdischen Tempelberg, in Aussicht gestellt wird. Auch mehr Westjordanland wird ihnen versprochen, wenn sie beim Thema Flüchtlinge den Israelis weiter entgegenkämen.

Doch ob die israelische Maximalofferte der palästinensischen Minimalforderung nahe kommt? Real besehen hat die Al-Aksa-Intifada die Konzessionsbereitschaft beider Völker nicht gerade gesteigert. Doch Barak bleibt keine andere Option. Ohne einen Verhandlungserfolg kann er die Wahl gleich verloren geben. Eine riskante Entweder-oder-Politik. Barak setzt auf die Drohung, dass sonst Scharon Premier wird. Yassir Arafat freilich muss mehr vorlegen als ein von Israel abhängiges Protektorat Palästina, um seine Leute von einem Friedensdeal zu überzeugen.