Kölner Stadt-Anzeiger, 20.12.2000

Mindestens 16 Tote

Polizei stürmt türkische Gefängnissen

Ankara/Bern/Frankfurt - Bei einer gewaltsamen Polizeiaktion zur Beendigung der Hungerstreiks in 20 türkischen Gefängnissen sind am Dienstag mindestens 14 Häftlinge und zwei Polizisten ums Leben gekommen.

Polizei-Sondereinheiten hatten zum Teil mit Hilfe von Bulldozern und Tränengas am Morgen damit begonnen, die Gefängnisse zu stürmen. Die Beamten wollten einen seit über 60 Tagen dauernden Hungerstreik beenden, dem sich zuletzt 1 139 Häftlinge angeschlossen hatten. Die Polizeiaktion unter dem offiziellen Motto "Rückkehr zum Leben" löste in der Schweiz und in Deutschland Protestaktionen aus.

Die Hungerstreikenden, die zum großen Teil nur gezuckertes Wasser zu sich nahmen, protestierten gegen die Schaffung eines Zellensystems in neuen Gefängnissen an Stelle der bisherigen Massenzellen. Die Häftlinge befürchten, dass sie in den kleinen Zellen Übergriffen von Aufsehern ausgesetzt sein könnten.

Zudem verlangen sie die Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte und der Anti-Terror- Gesetze. Im Istanbuler Gefängnis Bayrampasa übergossen sich nach Angaben von Justizminister Hikmet Sami Türk zwei Häftlinge mit Benzin und zündeten sich an. Sie seien ihren schweren Verletzungen erlegen.

Stunden später berichtete der private TV-Sender NTV unter Berufung auf medizinisches Personal, die Zahl der Häftlinge, die sich selbst tödliche Brandverletzungen beigebracht hätten, sei auf zwölf gestiegen. Besonders in den Istanbuler Haftanstalten wurde offenbar lange Widerstand geleistet.

In einem anderen Istanbuler Gefängnis, Umraniye, sei ein Häftling erschossen worden, der sich ebenfalls angezündet habe und dann auf die Polizisten zugerannt sei. Bei der Erstürmung dieser Haftanstalt sei auch ein Beamter ums Leben gekommen, ein anderer in der Stadt Canakkale. Im Gefängnis von Canakkale habe sich ferner ein weiblicher Häftling den Flammentod beigebracht.

Mehr als 200 hungerstreikende Häftlinge seien zur Behandlung in Krankenhäuser gebracht worden, teilte das Innenministerium mit. Auch zahlreiche Polizisten mussten wegen Tränengas-Reizungen behandelt werden. Die Polizei riegelte die Gegend um die Haftanstalten ab und verstärkte die Sicherheitsvorkehrungen in der Nähe von Krankenhäusern. 31 Demonstranten wurden in Istanbul festgenommen.

Nach 61 Tagen ohne Nahrungsaufnahme waren mehrere der Hungerstreikenden in den letzten Tagen am Rande des Todes. Ministerpräsident Bülent Ecevit sagte im privaten Fernsehsender NTV zu der Polizeiaktion: "Es ist das Bemühen, die Terroristen vor dem eigenen Terrorismus zu retten."

Aus Protest gegen die gewaltsamen Polizeiaktion haben sich am Dienstag ein Dutzend Demonstranten im Schweizer Parlament in Bern vorübergehend verschanzt. Sie schrien Parolen gegen die Türkei aus den Fenstern. In Zürich setzte die Polizei Gummischrot gegen rund 100 Kurden und Autonome ein, die Steine gegen das türkische Konsulat schleuderten.

In Frankfurt am Main besetzten acht Türken die Zentrale der SPD Hessen-Süd. In Hamburg demonstrierten nach Polizeiangaben rund 70 Türken friedlich vor dem Generalkonsulat.