Frankfurter Rundschau, 20.12.2000

Türkische Polizei stürmt Gefängnisse und "beendet" Hungerstreiks

Mindestens sechs Tote bei Angriffen in 20 Haftanstalten / Gefangene wehren sich gegen Isolationshaft und Willkür

Von Gerd Höhler und Edgar Auth

Schwer bewaffnete Spezialeinheiten der türkischen Polizei haben am Dienstag rund 20 Haftanstalten gestürmt. Damit wollte die Regierung den seit über sechzig Tagen andauernden Hungerstreik von mehr als tausend Gefangenen gegen so genannte Isolationszellen beenden. Nach ersten offiziellen Angaben gab es dabei mindestens sechs, die türkische Menschenrechtsstiftung in Ankara meldete 10 Tote.

ATHEN / FRANKFURT A. M., 19. Dezember. Bei der Erstürmung mehrerer Gefängnisse setzten Polizei und Militär nach Angaben von Unterstützergruppen und des türkischen Senders NTV Panzer und schweres Räumgerät ein, um die Wände der Gefängnistrakte einzureißen, in denen sich die Hungerstreikenden aufhielten. Die Polizei sei dabei auf "bewaffneten Widerstand" gestoßen, teilte das Innenministerium am Nachmittag mit. Man sei bemüht, diesen "Widerstand zu brechen".

Im Istanbuler Bayrampasa-Gefängnis übergossen sich mehrere Häftlinge mit brennbaren Flüssigkeiten und setzten sich selbst in Flammen, als die Polizei in die Gemeinschaftszellen eindrang. Dies berichtete das Innenministerium. Zwei von ihnen starben. Der Menschenrechtsverein IHD ging Berichten nach, wonach aus dem Gefängnis gerufen wurde: "Häftlinge brennen, aber wir haben uns nicht selbst angezündet." Aus dem Bayrampasa-Gefängnis stiegen weithin sichtbare Rauchwolken auf. Bei dem Sturm seien auch zwei Polizeibeamte ums Leben gekommen, so das Ministerium. Im westtürkischen Canakkale starb eine weibliche Gefangene durch Selbstverbrennung. Ein weiterer Häftling, der sich ebenfalls anzuzünden versuchte, sei erschossen worden.

In neun Haftanstalten habe man die Hungerstreiks "beendet", teilte Justizminister Hikmet Sami Türk mit. 146 Häftlinge, die teils seit 61 Tagen keine feste Nahrung mehr zu sich genommen hatten, wurden in Krankenhäuser eingeliefert. Nach Angaben des Justizministers beteiligten sich zuletzt 1139 überwiegend linksextremen Gruppen zugerechnete Häftlinge an den Protesten, 284 von ihnen nahmen am so genannten Todesfasten teil.

Sakine Sevim vom IHD in Istanbul sagte der FR, einige der Fastenden seien in lebensbedrohlichem Zustand. Weitere etwa 8000 Häftlinge seien solidarisch im Hungerstreik. Sie wollen unter keinen Umständen die Verlegung in neue Zellenbauten vom "Typ F" hinnehmen, in denen statt der bisherigen Gemeinschaftsschlafsäle für bis zu 100 Gefangene Einzel- und Dreierzellen eingerichtet wurden. Sevim erläuterte, warum die Gefangenen dies ablehnen: Einmal seien sie dort der in türkischen Gefängnissen grassierenden Willkür verstärkt ausgesetzt. Sie erinnerte an den Tod von 10 Häftlingen im Gefängnis Ulucanlar im September 1999, für den sie Polizei und Militär verantwortlich machte. "Wenn man schon in Sammelzellen Leute umbringen kann, kann man das in Einzelzellen umso leichter", sagte Sevim. Einzelzellen bedeuteten auch soziale Isolierung und Krankheit.

Dagegen hatte Justizminister Türk gesagt, der F-Typ solle Mängel des Schlafsaal-Systems beheben, wo "Mafiaführer oder einfach starke Verbrecher die Kontrolle über ihre Mithäftlinge gewonnen haben". Türk hatte zwar kürzlich angekündigt, die Eröffnung der neuen Gefängnisse zu verschieben, bis ein "sozialer Konsens" darüber erzielt sei. Die Gefangenen beharrten aber auf der Abschaffung des Typs F. Ministerpräsident Bülent Ecevit rechtfertigte die Polizeiaktion am Dienstag mit den Worten, es gehe darum, "die Terroristen vor ihrem eigenen Terror zu schützen".