Frankfurter Rundschau, 18.12.2000

Häftlinge begraben ihre Hoffnung

Türkischer Staatspräsident Sezer lehnt Amnestiegesetz ab

Von Gerd Höhler (Athen)

Rund 35 000 türkische Strafgefangene vom Taschendieb bis zum Serienmörder müssen die Hoffnung auf vorzeitige Entlassung vorerst begraben. Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer verweigert der vor zehn Tagen vom Parlament verabschiedeten Amnestie seine Zustimmung und verwies das Gesetz zurück an die Nationalversammlung.

Mit der vorzeitigen Entlassung von rund der Hälfte der etwa 72 000 Strafgefangenen hoffte die Regierung, die Haftbedingungen in den total überfüllten Gefängnissen zu verbessern. Die geplante Amnestie hatte allerdings in Teilen der Öffentlichkeit Empörung ausgelöst. Die Aussicht, dass viele tausend Gewaltverbrechern bereits ein oder zwei Jahren Haft freikommen sollten, sorgte für Unruhe.

Schon im vergangenen Jahr durchkreuzte der damalige konservative Staatspräsident Süleyman Demirel Pläne für eine solche Amnestie - wie jetzt sein Nachfolger Sezer, ein früherer Verfassungsgerichtspräsident. Mit einer Amnestie die Missstände im Strafvollzug beheben zu wollen, erschüttere das Vertrauen in die Justiz und die Gesetze, so Sezer in seiner sechs Seiten umfassenden Begründung. Der Präsident kann die Amnestie allerdings nur verzögern. Verabschiedet das Parlament das Gesetz nach erneuter Beratung in unveränderter Form, muss er zustimmen.

Er sei "traurig" über Sezers Veto, sagte Ministerpräsident Bülent Ecevit, "aber meine Traurigkeit ist unwichtig". Die Verwandten und Angehörigen der Häftlinge hätten sich auf ein Wiedersehen gefreut.

Dies ist nicht der erste Konflikt zwischen dem Regierungs- und dem Staatschef. Ecevit hatte Sezer im Frühjahr für das höchste Staatsamt. Aber ein gefügiger Präsident ist der aufrechte Jurist deshalb nicht. Im August blockierte er ein Dekret, mit dem Ecevit auf Weisung der Armee tausende von Staatsdienern, die islamistischer Umtriebe verdächtigt werden, feuern wollte. Laut Sezer hatte das Parlament darüber zu entscheiden. Die erneute Aufschiebung der Amnestie könnte die Situation in den türkischen Gefängnissen weiter verschärfen.

Seit nun 60 Tagen befinden sich über 1100 überwiegend linksgerichtete Häftlinge im Hungerstreik. 249 von ihnen beteiligen sich am so genannten Todesfasten.