Tagblatt (CH), 16.12.2000

Aufstand türkischer Polizisten

Seit Tagen gehen türkische Polizisten auf die Strasse. Zu Tausenden fordern sie den Rücktritt der Regierung

Jan Keetman/Istanbul

Mit Parolen wie "Blut für Blut, Zahn um Zahn, Rache . . .", "Die uns verkaufen, werden wir verkaufen" und "Die Regierung soll zurücktreten!" demonstrieren Polizisten in Istanbul, Bursa, Adana, Antalya, Mersin und Gaziantep. Auf ihren Märschen haben die Beamten und Beamtinnen nicht nur türkische Fahnen dabei, sondern auch ihre Pistolen am Gürtel und oft auch in der Hand.

Attentat auf Polizeibus

Der Anlass der Demonstrationen war ein Überfall auf einen Bus einer Spezialeinheit der Polizei in Istanbul, bei dem zwei Polizisten starben und 13 verletzt worden waren. Am Tatort wurde ein Plakat der Türkischen kommunistischen Partei/Marxisten, Leninisten (TKP/ML) gefunden. Gefangene aus der TKP/ML beteiligen sich an dem landesweiten Hungerstreik gegen eine geplante Gefängnisreform, der seit 56 Tagen anhält. Möglicherweise war der Überfall auf den Bus auch eine Racheaktion für den Tod eines 21-jährigen Mannes, der beim Versuch, eine Parole an eine Wand zu schreiben, von der Polizei erschossen worden war. Es gibt auch Überlegungen, der Überfall auf den Polizeibus sei von Kreisen verübt worden, denen es darum ging, einen Anlass für den Aufstand der türkischen Polizei zu schaffen. Solchen Überlegungen hat der türkische Premier Ecevit selbst Nahrung gegeben, als er einem Journalisten erklärte, es sehe wirklich so aus, als habe da jemand "auf einen Knopf gedrückt"

Spekulationen um Ursachen

Nach Gründen für das Gären innerhalb der Polizei muss man nicht lange suchen. Da ist zum einen das Amnestiegesetz, das folternde Polizisten nicht mit einschliesst. Ein entsprechender Vorstoss des rechtsextremen Koalitionspartners MHP war am Widerstand Ecevits und der Rücktrittsdrohung von Justizminister Hikmet Sami Türk gescheitert. Frustriert sind die Polizisten auch über ihre niedere Bezahlung. Das organisatorische Rückgrat des Protestes könnten aber unzufriedene Aktivisten der MHP-Jugendorganisation sein. Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Polizisten den "Idealistenclubs" oder "Grauen Wölfen" nahestehen. Unter den "Idealisten" herrscht Unmut über den zur Mitte strebenden Kurs der MHP-Führung unter Devlet Bahceli. Protestiert die Polizei also für mehr Geld oder geht es gegen die Annäherung an Europa und die Bereitschaft der Regierung, die Menschenrechtsforderungen der EU zu erfüllen?