Die Welt, 15.12.2000

Pokémon und Öcalan

In der Türkei hagelt es Sendeverbote

Von Claudia Steiner

Istanbul - "Es regnet wieder Verbote", konstatieren die türkischen Zeitungen zur Zeit. Denn alle paar Wochen gibt die Oberste Aufsichtsbehörde für Radio und Fernsehen (RTÜK) ihre Beschlüsse bekannt und verhängt über Rundfunkstationen mehrtägige Sendeverbote. 1999 waren es insgesamt über 2300 Tage, in diesem Jahr sind es nach Angaben von "Reporter ohne Grenzen" von Januar bis Ende November bereits mehr als 4000. Jüngstes Opfer war in der vergangenen Woche der Fernsehsender ATV, der wegen eines "Pokémon"-Films einen Tag lang nichts ausstrahlen durfte. Die Zeichentrickfilme seien schädlich für die jungen Zuschauer, so die Behörde. Zwei türkische Kinder haben sich in diesem Jahr verletzt, weil sie wie die "Pokémon"-Monster fliegen wollten und vom Balkon sprangen.
Häufiger Grund für die Verbote sind so genannte separatistische Berichte - also Beiträge, die sich mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder der Kurdenfrage befassen. Dem Nachrichtensender CNN Türk hatte in diesem Jahr eine Diskussionsrunde über PKK-Chef Abdullah Öcalan Ärger eingebracht, in der der Moderator die Frage stellte: "Könnte Öcalan vielleicht zu einem Mandela werden? Könnte der Punkt kommen, an dem man sagt, Öcalan soll frei sein?". Und Radio Umut (Hoffnung) hatte den Zorn der Medienwächter mit einem "separatistischen Lied" auf sich gezogen. Entsprechend ablehnend steht RTÜK der Zulassung kurdischer TV-Sender gegenüber, die die Europäische Union von dem EU-Kandidaten fordert. "Bevor die Sender kurdische Sendungen ausstrahlen, sollen sie zuerst lernen, türkische Sendungen zu machen", meinte RTÜK-Chef Nuri Kayis.

Einige TV-Sender geben mit Bildern von blutigen Unfallopfern, persönlichen Beleidigungen oder Vorverurteilungen von Verdächtigen Anlass zur Kritik. Andere werden von RTÜK verboten, weil sie gegen Moralvorstellung und den Kinderschutz verstießen. So musste Acik Radyo (Offenes Radio) dieses Jahr wegen einer "unmoralischen Charles-Bukowski-Geschichte" ("The Most Beautiful Girl in Town") mehrere Tage stumm bleiben. Nachdem der Sender dagegen protestiert hatte, wurde er Berichten zufolge ganz verboten.

Auch ein Interview des TV-Senders Interstar mit einem Gigolo, der erzählt hatte, dass er für Geld Sex mit einem Ehepaar hatte, gefiel den Medienwächtern nicht und brachte dem Sender ein dreitägiges Verbot ein. Als ATV den Model-Wettbewerb "Elite Model Look 2000" mit 14- bis 20-jährigen Frauen im Bikini ausstrahlte, durfte einen Tag lang nicht gesendet werden - dieser Wettbewerb könne die geistige, seelische und moralische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen negativ beeinflussen. dpa