Darmstädter Echo online, 15.12.2000

"Todes-Fasten" gegen Haftanstalten vom Typ F

Menschenrechte: Die türkische Anwältin Kudret Gözütok berichtet aus Darmstadts Schwesterstadt Bursa

Die Menschenrechte. Dauerthema, wenn es um eine politische Bewertung der Türkei geht. Sieht Kudret Gözütok in den letzten vier Jahren in ihrem Heimatland, was die Respektierung der politischen Freiheiten und Rechte Andersdenkender anbetrifft, irgendeine Veränderung, die auch Verbesserung ist? Die resolute Rechtsanwältin, 42 Jahre alt: "Das muss ich leider mit Nein beantworten. Es läuft eher anders herum. Die Lebensverhältnisse, etwa bei der Arbeiterschaft, werden immer schlechter, Demonstrationen werden brutal aufgelöst und alle so genannten Verbesserungen sind, leider, nichts als Show-Effekte."

Auf Wunsch der Darmstädter Gruppen von Amnesty International (AI) sowie auf Einladung von Oberbürgermeister Peter Benz besucht die Anwältin und Menschenrechtsaktivistin nun Darmstadt. Staunenswert einerseits schon, dass sie kommen durfte. Noch vor einem Jahr wurde dem Vorstandsmitglied des Menschenrechtsvereins IHD von türkischen Behörden der Pass vorenthalten und die Ausreise unmöglich gemacht. Andererseits gehört ihr jetzt genehmigter Besuch in der Bundesrepublik eben zu jener Form von "Lieb-Kind-Machen" (Gözütok), das die Türkei augenblicklich für unverzichtbar halte: das Land möchte unbedingt in die Europäische Union.

Es gibt keine AI-Gruppen in der Türkei. Ansprechpartner für die Darmstädter AI-Gruppe 1027 ist der Menschenrechtsverein IHD in Bursa. Seit 1988 gibt es ihn, vorübergehend wurde sein Büro vom türkischen Staat geschlossen, seit 1998 ist es wieder offen - und hat alle Hände voll zu tun. Gegen die Absicht der Zentralregierung in Ankara, Haftanstalten vom Typ F (der Name rührt von der F-Form des Gebäudes her) zu erstellen, um dort politische Gefangene in Einzelhaft (Gözütok: "Isolierhaft") unterzubringen, laufen in vielen Gefängnissen zurzeit Proteste. Auch in Bursa. Das sei kein Hungerstreik im klassischen hinweisenden Sinne, das sei nur richtig bezeichnet als "Todes-Fasten".

"Selbstverständlich" gebe es in der Türkei, eigentlich, keine politischen Gefangenen. In der Türkei gebe es nur Terroristen. Für die sei ein Anti-Terror-Gesetz formuliert worden. Die Existenz dieses Gesetzes allein schaffe zwei Gerichtsbarkeiten, zwei juristische Bewertungskataloge, zwei unterschiedliche Strafbemessungen. Die Anwältin: "So was darf in der Justiz gar nicht passieren." Tut es aber dann doch. Wer als "politisch" eingestuft sei, könne nach der Verhaftung keinen sofortigen Rechtsbeistand bestellen, könne über mehrere Tage ohne gerichtliche Beschlussfassung festgehalten werden, werde, sofern verurteilt, unglaublich viel härter bestraft und lande in extra geschaffenen Haftanstalten ohne geregeltes Besuchsrecht. Kein Vergleich zur Behandlung der "ganz normalen Kriminellen".

Auch gegen die Haftbedingungen richte sich das "Todes-Fasten" (in Bursa gibt es zwei Gefängnisse: eins für Kriminelle, eins für die rund 400 politischen Gefangenen). Die von Zeit zu Zeit angesetzten gewalttätigen Razzien von Gendarmerien und Militärpolizei in politischen Gefängnissen (die Zellen seien mit bis zu zehn Menschen belegt) forderten regelmäßig Schwerverletzte und Todesopfer, oft in zweistelliger Zahl.

Kudret Gözütok stellt ihre Einsichten und Erfahrungen immer auch in den Kontext einer autoritären Staatsauffassung, der Abhängigkeit der dritten Gewalt von der Politik und, nicht zuletzt, in den als staatsbedrohlich empfundenen Dauer-Konflikt mit der kurdischen Bevölkerungsminderheit. "Wir hatten hier vor einiger Zeit eine Volkszählung. Die Kurden in Bursa wohnen in Trabantenstädten am Rand, da führen nicht mal richtige Straßen hin. Geschweige denn eine Kanalisation. Dem IHD liegen ausreichend Hinweise vor, dass diese Leute gar nicht gezählt wurden. "Die gelten", resümiert Gözütok, "nicht als richtige Menschen."

Ihr Wunsch wäre, sagt die Türkin, dass Darmstadt bei seiner Schwesterstadt in Sachen Bürger- und Menschenrechte "den Versuch einer positiven Beeinflussung" wagen würde. Da werde zwar die Stadtverwaltung in Bursa "mit dem simplen Argument ausweichen", man sei eine Verwaltung, man halte die Stadt am Leben, man sei ganz fern von der Politik, aber: "Der Staat ist eben für die Bürger da, nicht umgekehrt." Aber sie sagte auch Dank, und zwar "für die sensitive Unterstützung" der Stadt Darmstadt und der hiesigen AI-Gruppen bei der Durchsetzung "von mehr Rechtsstaatlichkeit".

Gözütok hat ausreichend persönliche Erfahrung sammeln müssen. Verhaftung, fünf Monate Untersuchungshaft und polizeiliche Folter hat sie hinter sich. Und ist hoffnungsvoll. Warum? "Es gibt bei uns immer mehr Bürger, die eine wirkliche Demokratie wollen. Aber diesem Trend zum Trotz", schließt sie, "- blauäugig sind wir nicht." Paul-Hermann Gruner 15.12.2000