Neue Zürcher Zeitung, 15. Dezember 2000

Streit um ein Amnestiegesetz in der Türkei

Rebellierende Polizisten in mehreren Städten

Ein Amnestiegesetz der türkischen Regierung hat eine Rebellion der Polizei ausgelöst und die Risse in der Regierungskoalition vertieft. Präsident Sezer muss entscheiden, ob die rund 35 000 von der Amnestie profitierenden Häftlinge tatsächlich freikommen.

it. Istanbul, 14. Dez.

Der türkische Ministerpräsident Ecevit hat die Polizeikräfte seines Landes aufgerufen, ihre seit zwei Tagen währenden Proteste gegen seine Regierung endlich einzustellen. Die Situation werde ausser Kontrolle geraten, wenn Polizisten in den Strassen demonstrierten und die öffentliche Ordnung störten, sagte der müde wirkende Regierungschef. Innenminister Tantan hat am Donnerstag ein Ermittlungsverfahren gegen die Initianten der Proteste eingeleitet. Am Dienstag waren rund 4000 Polizisten vor das Polizeipräsidium und vor den Sitz des Gouverneurs in Istanbul marschiert, um gegen den Mord an zwei ihrerKollegen zu protestieren. Die beiden Opfer, Mitglieder einer Eliteeinheit, waren am Vortag beieinem Überfall angeblich von linken Tätern getötet worden. Der Trauerzug artete in eine Demonstration gegen die Regierung Ecevit aus. Die aufgebrachten uniformierten Männer und Frauen skandierten Slogans wie "Wir wollen Rache" und "Ecevit, trete zurück". Zur selben Zeit schlossen sich in Ankara Polizisten und Rechtsextremisten zusammen, um eine Demonstration von Kurden und Linken brutal auseinander zutreiben. Am Dienstag und Mittwoch demonstrierten Hunderte von Polizisten in Bursa, Izmir, Adana, Mersin und Gaziantep.

Umstrittenes Amnestiegesetz

Bei all diesen Protesten war auffallend, dass Polizisten der unteren Chargen ihren Vorgesetzten den Gehorsam verweigerten. Als der Istanbuler Polizeichef Kazim Abanoz die Demonstranten zu beruhigen versuchte, schrien sie ihm entgegen: "Wir verkaufen jene, die uns verkauft haben." Die geballte Wut der Polizisten richtete sich hauptsächlich gegen den Justizminister Hikmet Sami Türk, der in dem von ihm ausgearbeiteten Amnestiegesetz verurteilte Folterer der Polizei nicht berücksichtigt. Die Polizisten forderten denn auch mit Nachdruck den Rücktritt des unbeliebten Ministers. Türk hatte gehofft, mit einerAmnestie die Lage in den hoffnungslos überfüllten Gefängnissen, in denen öfter Hungerstreiksder politischen Häftlinge, gewalttätige Geiselnahmen und bewaffnete Auseinandersetzungenausbrechen, verbessern zu können. Sein Amnestiegesetz, das am letzten Freitag trotz heftigem Widerstand von Mitgliedern aller Parteien vom Parlament verabschiedet wurde, sieht die Freilassung von rund 35 000 Häftlingen vor. Das ist faktisch die Hälfte aller Gefangenen im Lande.

Auf der Grundlage des Amnestiegesetzes können Haftstrafen um bis zu zehn Jahre reduziert werden. Davon profitieren vor allem Tausende von Gemeinverbrechern, unter ihnen auch zahlreiche Mörder. Vorgesehen ist auch die Freilassung des Papstattentäters Mehmet Ali Agca. Er hatte in der Türkei 1979 den Chefredaktor der liberalen Tageszeitung "Milliyet" ermordet. Das Amnestiegesetz ist Resultat eines Handels, der die Parlamentsparteien während eineinhalb Jahren beschäftigt hatte. Die Islamisten unterstützten das Gesetzt erst, nachdem die Regierung einen zusätzlichen Artikel hinzugefügt und ihnen zugesichert hatte, dass der ehemalige IslamistenchefErbakan nicht ins Gefängnis komme. Der 75-jährige Erbakan wurde wegen Volksverhetzung verurteilt und hätte im Januar eine einjährige Gefängnisstrafe antreten sollen. In den Genuss der Amnestie kommen ferner rund 3000 Kurden, die laut Artikel 169 des Strafgesetzbuches wegen Unterstützung illegaler Terrororganisationen verurteilt wurden. Die inhaftierten Kämpfer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) kommen allerdings nicht in den Genuss der Amnestie. Todesurteile werden nach Einführung des neuen Gesetzes in langjährige Haftstrafen umgewandelt. Dies gilt aber nicht für den zum Tode verurteilten Kurdenführer Öcalan; er wurde wegen Verrats bestraft.

Verbreitete Unzufriedenheit

Unzufriedenheit mit dem neuen Gesetz macht sich nicht nur in der Öffentlichkeit breit. Auch die Regierungskoalition zwischen der Demokratischen Linkspartei (DSP) Ecevits, der konservativen Mutterlandspartei (Anap) von Mesut Yilmaz sowie der rechtsextremen Aktionspartei (MHP) droht darob zu zerbrechen. Die DSP-Mitglieder sind nicht zufrieden, weil Dutzende von linken Gewissenstätern weiterhin hinter Gitter bleiben. Dass von der Amnestie Verbrecher gegen den Staat nicht erfasst werden, war die Bedingung der MHP, der zweitstärksten Koalitionspartnerin. Am Veto der DSP scheiterten die Versuche der MHP, verurteilte Parteimitglieder wie den mehrfachen Mörder Haluk Kirci oder Polizeifolterer freizubekommen. Leer ausgegangen ist die konservativeAnap. Trotz ihren Bemühungen im Parteienhandel müssen zahlreiche der Anap nahestehende Geschäftsleute, die wegen Korruption verurteilt wurden, weiterhin im Gefängnis bleiben. Er habe versprochen, dass das Amnestiegesetz bis zum Ende des Ramadans am 27. Dezember in Kraft trete, damit die Entlassenen mit ihren Familien feiern könnten, erklärte vor kurzem der stellvertretende Regierungschef und MHP-Vorsitzende Bahceli. Das ist allerdings noch gar nicht sicher. Bevor das Gesetz in Kraft treten kann, muss es zuerst von Präsident Sezer sowie vom Verfassungsgericht gutgeheissen werden.