Die Welt, 14.12.2000

"Realistisch gesehen: Mehr war in Nizza nicht machbar"

Außenminister Fischer zieht eine Bilanz des EU-Gipfels: Die Beitrittsfähigkeit wurde erreicht, und das deutsch-französische Verhältnis bleibt stabil - WELT-Gespräch

Auch wenn das Prinzip der "doppelten Mehrheit" bei der Stimmengewichtung nicht erreicht wurde, sieht Bundesaußenminister Joschka Fischer den EU-Gipfel von Nizza als gute Arbeitsgrundlage. Vor allem sei das Ziel, die Union beitrittsfähig zu machen für die Aufnahme neuer Mitglieder, erreicht worden. Mit Fischer sprach Sophie Mühlmann.
DIE WELT: Herr Minister, in Nizza sah man Sie bestens gelaunt, war der Gipfel für Sie ein Erfolg?
Joschka Fischer: Der Gipfel von Nizza ist ein Schritt nach vorn, unter dem Gesichtspunkt der Erweiterungsfähigkeit sogar ein sehr wichtiger. Der Bundeskanzler und ich haben ein strategisches Ziel gehabt: die Beitrittsfähigkeit der Union, um so die Frage der Wiedervereinigung Europas durch die Osterweiterung voranzubringen. Das ist geleistet worden.
DIE WELT: Ist nicht die Messlatte künstlich niedrig gehängt worden, um den Gipfel noch als Erfolg verkaufen zu können?
Fischer: Nein, ich will da nichts als Erfolg verkaufen. Wir haben hart gerungen, und wir hätten uns mehr gewünscht, das ist überhaupt keine Frage. Aber wenn ich die wichtigen einzelnen Punkte durchgehe, wir haben bei der Kommission eine Entscheidung, auch wenn da noch irgendwann nach Erreichen der 27 eine Überprüfung stattfinden soll. Zum Zweiten haben wir in der Frage der Stimmengewichtung ein Ergebnis: Die Neugewichtung zwischen Groß und Klein wird zu Gunsten der Großen hergestellt. Und das ist notwendig, weil sehr viele Kleine beitreten. Ich hätte mir dort ein anderes Prinzip gewünscht - doppelte Mehrheit -, aber das war nicht machbar. Insofern ist das, was jetzt erreicht wurde, auch eine Berücksichtigung des demographischen Faktors für Deutschland, ohne dabei in einen Grundsatzkonflikt mit Frankreich zu geraten. Ich denke, sogar ein sehr geschicktes Ergebnis nach langen, zähen Verhandlungen. Bei der Frage der qualifizierten Mehrheit muss man sagen, es war schlicht und einfach nicht mehr machbar.
DIE WELT: Aber in den entscheidenden Punkten, wie beim Veto, ist nichts passiert.
Fischer: Nein, "nichts" würde ich nicht sagen. Das Asyl zum Beispiel wird in die Mehrheitsentscheidung gehen, wenn die EU eine gemeinsame Politik vereinbart hat. Dadurch, dass das Thema jetzt in den Konklusionen und im Vertrag so drinsteht, wird die Kommission hier Vorschläge vorlegen. Das heißt, es wird jetzt einen konkreten Prozess geben, der zwar sicher noch einige Zeit dauern wird, aber anschließend wird das Thema in die Mehrheit überführt. Allein die verstärkte Zusammenarbeit, da hätte man vor einem Jahr noch wahre Freudentänze aufgeführt. Was sehr wichtig ist in Zusammenhang mit dem Post-Nizza-Prozess, was stärkere Demokratisierung der Union betrifft. Ich rede da nichts schön! Ich hätte mir mehr gewünscht, der Bundeskanzler hätte sich mehr gewünscht, gerade auch bei der qualifizierten Mehrheit. Aber wenn man es realistisch sieht, war erstens mehr nicht drin, und zweitens: Damit haben wir die Erweiterungsfähigkeit. Und das ist ein deutlicher Schritt über Amsterdam hinaus.
DIE WELT: Ist es nicht bei der Regelung der Mehrheitsentscheidungen möglich, dass kleinere Länder sich ihre Entscheidungen künftig teuer bezahlen lassen?
Fischer: Es werden nicht in dem Sinne Beschlüsse bezahlt, aber bei so einer finanziellen Vorausschau haben die unterschiedlichen Länder unterschiedliche Bedürfnisse, wir übrigens auch. Das sind legitime Interessen, da hängen teilweise sehr viele Arbeitsplätze dran.
DIE WELT: Hat sich in Nizza gezeigt, dass die eigenen nationalen Interessen stärker sind als der Wille zur Solidarität?
Fischer: Europa ist immer beides. Die Frage ist: Balance. Sollte das eigene Interesse überwiegen, würde dieses die Mechanismen der Union gefährden, würde es sich endgültig durchsetzen, am Ende sogar zerstören. Wirtschaftlichen Eigennutz zu suchen bei gleichzeitiger Kompromissorientierung im Geiste der Integration ist das Geheimnis des europäischen Integrationsprozesses gewesen. Es war nie nur das eigene Interesse, sondern immer auch der Geist des europäischen Zusammenwachsens. Und wenn dieser spirituelle Punkt Europas, um es mal so zu nennen, wenn diese Idee der europäischen Integration zu schwach wird, dann gefährdet das auch den wirtschaftlichen Mechanismus, den politischen Kooperationsmechanismus. Und ich denke, man muss nach Nizza verstärkt daran arbeiten, dass dieses in einer erweiterten Union in den Vordergrund tritt.
DIE WELT: Glauben Sie, dass es in Zukunft nur noch Fortschritte durch die so genannte Avantgarde geben wird, einige Entschlossene, die voranpreschen?
Fischer: Nein. Man kann es ganz einfach sagen: Entweder wird die europäische Union handlungsfähig, oder es wird eine Krise entstehen, und aus dieser Krise werden Einzelne, die dem europäischen Geiste besonders verpflichtet sind, gemäß der verstärkten Zusammenarbeit, die Konsequenz ziehen.
DIE WELT: Besteht nicht die Gefahr, dass eine solche Differenzierung die EU sprengen könnte, wird sie nicht zu einem schwer zu steuernden Gewirr einzelner Gruppen?
Fischer: Nein. Es wird kein Gewirr geben. Eine variable Geometrie gibt es in Europa schon länger, schon immer. Klar ergeben sich daraus Fragen, die ich heute noch nicht beantworten kann. Die aber beantwortbar sind, wenn der Kopf wieder etwas frei ist. Die Frage kann man lösen, ohne dass ein unentwirrbares Knäuel, das noch schlimmer ist als das, was man heute schon hat, entsteht. Das will keiner, das wäre kontraproduktiv.
DIE WELT: Wie sollen Macht und Einfluss künftig verteilt werden? Was soll in Brüssel entschieden werden, was in den Staaten?
Fischer: Das ist eine schwierige Eingrenzungsdebatte, die so einfach nicht sein wird, weil man vieles eben so einfach nicht abgrenzen kann. Denn wir sollten natürlich nicht die Fortschritte des gemeinsamen Marktes gefährden. Das wäre für alle Beteiligten sehr töricht.
DIE WELT: Sehen die anderen Mitgliedsstaaten Nizza auch als positives Signal?
Fischer: Der französische Präsident Chirac hat gesagt: Es wird hier keiner rausgehen und zufrieden sein. Alle werden hier in Schmerzen rausgehen. Denn das ist das Wesen dieses schwierigen Kompromisses. An diesem Punkt muss ich ihm zustimmen.
DIE WELT: Helmut Kohl hat einmal gesagt, wenn alle EU-Länder geheim und hinter verschlossener Tür über die Osterweiterung abstimmen sollten, dann wäre die Mehrheit dagegen. Hat sich in Nizza herausgestellt, dass das stimmt?
Fischer: Es gibt welche, die sind mit größerer, und andere, die sind mit weniger großer Begeisterung dabei, wie das im Leben immer so ist. In Europa ist nichts uniform. Die einen sind weiter weg, die anderen sind näher dran, manche haben dort mehr emotionale Bindungen, andere weniger, aber das hat mit Sabotage nichts zu tun, sondern alle haben sich diesem historischen Projekt verpflichtet, und es sind jetzt ganz ordentliche Kompromisse herausgekommen.
DIE WELT: Frankreich tritt angeschlagen aus dem Gipfel hervor: Einerseits wird den Franzosen vorgeworfen, den Gipfel schlecht geführt zu haben, andererseits fühlen sie sich jetzt zurückgesetzt. Ist das deutsch-französische Verhältnis ramponiert?
Fischer: Nein. Das Verhältnis ist von sehr großer Bedeutung. Die französische Präsidentschaft hat das aus meiner Sicht, ich teile da die Kritik nicht, gut gemacht, in einer sehr schwierigen Situation.
DIE WELT: Die französische Presse spricht von Unterwerfung, es gibt im eigenen Land viel Kritik.
Fischer: Bei uns ja auch. Das spricht für die Richtigkeit der Chiracschen Konklusion.
DIE WELT: Besteht die Gefahr, dass die Errungenschaften von Nizza noch gekippt werden? Der Vertrag muss ja ratifiziert werden.
Fischer: Wer den Beitritt verzögern möchte, der wird sich für die Nichtratifizierung aussprechen. Ich hielte das für eine ganz schlechte Idee. Und alle die, die das versuchen, nehmen eine schwere Verantwortung auf sich, nämlich das Zusammenwachsen des geteilten Europas, das nun endlich angegangen werden muss, zu verzögern oder gar zu behindern, und das fände ich nicht gut.