DIE ZEIT 51/2000

Widerwillig ausgestreckte Hand

Der Streit um die EU-Truppe fängt nach dem Nizza-Gipfel erst richtig an - mit den Nato-Partnern, aber auch in der Union

Von Constanze Stelzenmüller

Brüssel Es war ein saftiger Krach, und er ist noch nicht zu Ende. Zuerst beschwerte sich Amerikas Verteidigungsminister William Cohen beim Kollegentreffen im Brüsseler Nato-Hauptquartier, wenn Europa ein militärisches Konkurrenzunternehmen zum Bündnis aufbaue, werde die Allianz zu einem "Relikt" verkümmern. Frankreichs Präsident Jacques Chirac böllerte wenig später aus Nizza zurück: Natürlich müsse die Truppe "unabhängig von der Nato aufgebaut werden". Woraufhin Großbritanniens Tony Blair protestierte: Nicht mit uns!

Die nächste Provokation steht bereits im Kalender. Wenn die Außenminister der Nato Ende dieser Woche in der belgischen Hauptstadt zu ihrem jährlichen Herbsttreffen zusammenkommen, weilt Frankreichs Chefdiplomat Hubert Védrine voraussichtlich - im Nahen Osten. Zufall? Der Brüsseler Termin ist immerhin seit sechs Monaten bekannt.

Auch eine erste gemeinsame Sitzung der Minister von Allianz und Union, als symbolische Geste der Einigkeit von den Amerikanern, Briten und Deutschen ersehnt, könnte an Paris scheitern. "Sie haben uns kalt lächelnd ein Abendessen vorgeschlagen", entrüstet sich ein Nato-Diplomat - "am Freitagabend, wenn sämtliche Politiker längst auf dem Rückflug sind."

Es ist ja nicht so, dass es keine Gemeinsamkeiten gäbe: Die Nato und zumal Amerika verlangen seit Jahrzehnten, die Europäer sollten mehr Verantwortung für die Sicherheit auf dem eigenen Kontinent übernehmen. Nun machen sie's endlich, und zwar zielstrebig und schnell. Die geplante EU-Eingreiftruppe soll gerade keine stehende Armee sein, sondern nur losziehen, wenn die Nato als solche sich nicht engagieren will. Die kollektive Verteidigung bleibt Sache des Bündnisses, Europa beschränkt sich auf das Krisenmanagement. Dafür baut es nicht etwa eigene Planungszentren und Hauptquartiere auf, sondern leiht sie sich mitsamt Gerät bei Bedarf von der Nato aus. So weit, so bekannt, so anerkannt.

Die Gereiztheit hat dennoch Gründe. Damit die EU Anleihen bei der Nato machen kann, sind komplizierte völkerrechtliche Verhandlungen zwischen den beiden Organisationen notwendig; Ähnliches gilt für die Beteiligung von EU-Beitrittskandidaten, die zugleich Nato-Mitglieder sind, wie die Türkei oder Polen. Doch die Beratungen seien, so berichten Beteiligte, von den Franzosen systematisch verzögert worden, was wiederum den Türken und anderen Nicht-EU-Europäern bei der Allianz Vorwände lieferte, um ihrerseits auf die Bremse zu treten. "Wir hätten", seufzt ein Verhandler, "schon vor einem halben Jahr so weit sein können."

Auch in der Substanz fällt das Verhandlungsangebot in dem 60-seitigen Papier zur "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik", das in Nizza verabschiedet wurde, hinter die Hoffnungen von London, Berlin und Washington zurück. Der Terminkalender für gemeinsame Beratungen ist so weit wie möglich gestreckt, die Tagesordnung so kurz, wie's eben geht. Dafür werden an der Stelle, wo es um die Ausleihe von Nato-Generälen und -Gerät geht, auf einmal forsch "Garantien" verlangt - während die Nato selbst bisher nur "gesicherten Zugang" versprach; kann ja sein, dass man das Zeug mal zurückholen muss, weil man es gerade selber braucht.

Juristische Haarspaltereien? Von dem Unterschied zwischen diesen beiden Vokabeln könnten einmal Menschenleben abhängen. Einstweilen ist vor allem eines garantiert: Ärger im Bündnishauptquartier. "Europa streckt seine Hand zur Nato aus", heißt es dort - "aber widerwillig und unfreundlich."

Alles ausbaden muss nun das Land, das am 1. Januar den EU-Ratsvorsitz von Frankreich übernimmt: "Ausgerechnet Schweden", sagt ein Europäer, "das nicht in der Nato ist, eine euroskeptische Bevölkerung hat und vom militärischen Krisenmanagement ohnehin nicht viel hält." Den nordischen Diplomaten ist nicht minder mulmig zumute - schon vor vier Wochen ging ein dringliches Fax aus Brüssel nach Stockholm mit einer Liste von knapp zwei Dutzend Problemen, die nun die Schweden bewältigen müssen. Der Regierungswechsel in Amerika und die kommenden Wahlkämpfe in Europa (Großbritannien; Frankreich; Deutschland) werden ihnen die Arbeit nicht leichter machen. Gut möglich, dass erst Belgien, das Mitte 2001 den Vorsitz übernimmt, die schwierigsten Fragen anpacken kann. Und dann, ja dann steht schon mit den Erweiterungsverhandlungen bei der EU (und der Nato!) das nächste Marathon auf dem Plan.

Grund genug, die Verhandlungen jetzt zügig voranzutreiben. Allerdings müssen die Europäer ihren militärischen Ankündigungen finanzielle Taten folgen lassen. Wenn es einmal so weit ist, lässt sich auch über eine neue Gewichtung von Kompetenzen und Verantwortung in der Allianz reden.