junge Welt, 12.12.2000

Demagogie statt Dialog

Türkische Regierung redet von Amnestie und meint Einführung der Isolationshaft

Wer am vergangenen Wochenende die Gelegenheit hatte, Nachrichten auf den türkischen TV-Kanälen zu empfangen, konnte Bilder von Straßenschlachten der Bevölkerung mit uniformierten Sicherheitskräften und Spezialeinheiten der türkischen Armee in nahezu allen kurdischen und türkischen Provinzen sehen. Quasi das ganze Land befindet sich derzeit im Widerstand gegen die geplante Einführung der Isolationshaft. Aufgerufen zu den Protestaktionen haben verschiedene Gefangenenorganisationen, der türkische Menschenrechtsverein IHD, die alternative Partei ÖDP, die Partei der Werktätigen, EMEP, die pro-kurdische Partei HADEP und die Gewerkschaft KESK. Hunderttausende folgten diesem Aufruf. Sie wurden konfrontiert mit der bewaffneten Staatsmacht, die brutal auf die Demonstrierenden einprügelte. Die Zahl der Verletzten ist momentan noch nicht zu überblicken. Hunderte wurden allein am vergangenen Samstag verhaftet. Trotzdem lassen die Menschen sich nicht einschüchtern und tragen ihren Protest weiter auf die Straße.

Seit dem 20. Oktober befinden sich etwa tausend politische Gefangene im Hungerstreik, den fast einhundert von ihnen am 19. November in ein Todesfasten umwandelten. Inzwischen sind mehr als zweihundertfünfzig politische Gefangene im Todesfasten. Sie fordern: Keine Einführung von Isolationshaft, die Aufhebung des Anti-Terrorgesetzes, die Schließung der Staatssicherheitsgerichte sowie die Verurteilung der Verantwortlichen für die Massaker in den Gefängnissen Burca, Ümraniye, Diyarbakir, Ulucanlar und Burdur und die sofortige Freilassung aller kranken und verletzten Gefangenen. Die knapp zehntausend Kriegsgefangenen aus dem kurdischen Befreiungskampf sind mittlerweile aus Solidarität in den Hungerstreik getreten. 63 Intellektuelle haben am vergangenen Wochenende einen zweitägigen Solidaritätshungerstreik im Gebäude der türkischen Schriftstellergewerkschaft durchgeführt. Der Widerstand in den Gefängnissen und die Solidarität draußen setzt die türkischen Regierung enorm unter Zugzwang. Eine Verhandlungskommission, bestehend aus Prominenten und Intellektuellen, verhandelt mit der Regierung über die Aussetzung des Baus der F-Typ-Gefängnisse, der Anstalten für die Isolationshaft. Eine Abordnung der Menschenrechtskommission des türkischen Parlamentes besuchte die hungerstreikenden Gefangenen. Unter den Besuchern waren auch Abgeordnete der Regierungspartei von Bülent Ecevit, der DSP, einer islamischen Partei und der Generalstaatsanwalt der Provinz Istanbul.

Am Samstag beriet das türkische Parlament über die aktuelle Situation und über ihr langjähriges Vorhaben, ein Amnestiegesetz zu erlassen. Anschließend teilte Justizminister Samir Türk vor den Medien mit, die Regierung werde zunächst einmal von dem Vorhaben, F-Typ-Gefängnisse zu errichten, Abstand nehmen. Ministerpräsident Bülent Ecevit stellte der Presse das verabschiedete Amnestiegesetz vor. Danach sollen alle Gefangenen auf Bewährung freigelassen werden, die nicht wegen (Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation) verurteilt wurden, sondern diese nur unterstützt hätten, indem sie beispielsweise Unterschlupf gewährten. Das würde für etwa 5 000 bis 8 000 PKK-Gefangenen und die Hälfte der Gefangenen aus den übrigen linken Organisationen, noch einmal knapp 1 500 Menschen, die Freilassung bedeuten. Insgesamt, so schätzen Menschenrechtsorganisationen, würden etwa 40 000 bis 50 000 Inhaftierte entlassen. Die übrigen können mit einem Straferlaß von bis zu zehn Jahren rechnen.

Ob das Gesetz rechtskräftig wird, hängt von der Unterschrift des Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer ab. Tritt es in Kraft, beschert es nicht nur dem größten Teil der Gefangenen die Freiheit, sondern auch der Regierung die materielle Voraussetzung für die ehrgeizigen Isolationshaftpläne. Während Justizminister Türk versprach, auf deren Einführung vorläufig zu verzichten, stellte Ecevit die Unterbringung der Gefangenen "in komfortablen Zwei- und Dreibettzellen" in Aussicht - was nichts anderes heißt, als eine ganz subtile Form der Einführung der Isolationshaft.

Die Gefangenen reagierten entsprechend. In einer Erklärung der Todesfastenden erteilten sie Samir Türk und Bülent Ecevit eine klare Absage. Sie bezichtigten die türkische Regierung der Demagogie und kündigten an, ihren Hungerstreik erst abzubrechen, wenn alle ihre Forderungen erfüllt sind, unter anderem die geplante Einführung der F-Typ- Gefängnisse vom Tisch wäre. Und sie pfeifen auf ein Amnestiegesetz: "Wir revolutionäre Gefangene haben mit einer Amnestie nichts am Hut", heißt es in der gemeinsamen Erklärung der mehr als zweihundertfünfzig Todesfastenden. "Amnestie ist für Schuldige. Unsere einzige Schuld ist, ein System begründen zu wollen, in dem Gleichheit und Gerechtigkeit herrscht, ein unabhängiges Land zu wollen, in dem der Ausbeutung durch den Imperialismus ein Ende bereitet wird. Eine Amnestie kann in den Gefängnissen unseres Landes keine Probleme lösen. Denn die Realität in unserem Land zeigt, daß die Gefängnisse, selbst wenn sie heute geleert werden, zwei Tage später erneut gefüllt sein werden."

Die Gefangenen brauchen dringend Vitamin-B1-Tabletten. Das Hamburger Komitees gegen lsolationshaft (IKM) ruft dazu auf, Geld für die notwendigen Medikamente zu spenden: Postbank Hamburg, Kontonr.: 79966-205, BLZ: 20010020, Stichwort: Vitamin B1.

Birgit Gärtner