Stuttgarter Nachrichten, 11.12.2000

Türkische Häftlinge packen schon ihre Koffer

Istanbul - Die Hungerstreiks gegen die Gefängnisreform gehen weiter - bei tausenden türkischen Häftlingen herrscht dagegen Aufbruchstimmung: Nachdem das Parlament am Freitagabend ein umstrittenes Amnestiegesetz verabschiedet hat, warten tausende auf ihre Freilassung.

VON CLAUDIA STEINER

Einige der insgesamt rund 35000 Häftlinge, die voraussichtlich von dem Gesetz profitieren werden, sollen bereits ihre Koffer gepackt haben. Nur Präsident Ahmet Necdet Sezer kann das Gesetz noch stoppen. Sein Vorgänger Süleyman Demirel hatte auf Grund scharfer Kritik aus der Bevölkerung ein Amnestiegesetz nicht unterzeichnet.

Ein Veto gegen das Gesetz würde jedoch die ohnehin angespannte Lage in den überfüllten Gefängnissen weiter verschärfen. Mehr als 200 Häftlinge sind aus Protest gegen eine Gefängnisreform und die Einführung eines Zellensystems seit mehr als sieben Wochen im Hungerstreik. Obwohl Justizminister Hikmet Sami Türk am Wochenende angekündigt hatte, dass die Einführung der neuen Gefängnisse verschoben wird, war bis zum Sonntag kein Ende des "Todesfastens'' in Sicht. Die Häftlinge wollen aber, dass die Reform ganz aufgegeben wird. Nun steht zu befürchten, dass es bald die ersten Toten geben wird.

Eine Ablehnung der Amnestie, die seit mehr als eineinhalb Jahren diskutiert und von tausenden Häftlingen ungeduldig erwartet wird, könnte Aufstände in den Gefängnissen mit ihren insgesamt 72000 Insassen auslösen. Wenn Sezer das Gesetz unterschreibt, können zahlreiche Häftlinge die Feiertage am Ende des Fastenmonats Ramadan bereits im Kreise ihrer Familie erleben.

Ein Großteil der Bevölkerung kritisiert das Gesetz jedoch scharf: "Ich flehe Präsident Sezer an, das Gesetz zu stoppen und keine Kriminellen und Mörder freizulassen'', sagte ein Türke im Fernsehen. Mit der so genannten "bedingten Freilassung'' werden Haftstrafen um bis zu zehn Jahre reduziert - dies gilt auch für Mörder.

Einer der bekanntesten Betroffenen, die von dem Gesetz profitieren werden, ist Ex-Ministerpräsident Necmettin Erbakan. Der Islamist war wegen einer Rede im Jahr 1994 im ostanatolischen Bingöl zu einer Haftstrafe verurteilt worden, weil er laut Gericht eine Spaltung des Volkes bewirken wollte. Ohne Amnestie hätte Erbakan im Januar seine Haftstrafe antreten müssen. Der berühmteste Häftling des Landes, der zum Tode verurteilte PKK-Chef Abdullah Öcalan, erhält dagegen keine Amnestie. Auch für politische Gefangene, PKK-Rebellen und die kurdische Ex-Parlamentsabgeordnete Leyla Zana wird sich nichts ändern.