junge Welt, 11.12.2000

Kommentar

Gesellschaftskrise

Israels Premier Barak zurückgetreten

Der Rücktritt des israelischen Premierministers Ehud Barak erfolgte im Zeichen der tiefsten Krise der israelischen Gesellschaft seit der Staatsgründung 1948. Noch nie war Israel innerlich so zerrissen und in seiner außenpolitischen Handlungsfähigkeit so paralysiert wie in diesen letzten Monaten. In einer zugespitzten Krise liegt oft auch die Voraussetzung für die Lösung der Krise. Doch dafür fehlen in Israel wohl sämtliche Voraussetzungen.

Barak war nicht der erste israelische Militär, der eine politische Karriere wagte. In dem Nahostland, das sich vom Beginn seiner Existenz an in einem latenten Kriegszustand mit seinen Nachbarn befindet, ist eine solche Laufbahn eher die Regel als die Ausnahme. Doch keiner der alten Haudegen erwies sich als Politiker so untalentiert wie Ehud Barak. Er war eine glatte Vorgabe an den innenpolitischen Gegner. Die Arbeitspartei hat die große Chance, eine historische Wende herbeizuführen, verpaßt. Sie tat dies bereits, als sie einen in der Routine israelischen Sicherheitsdenkens verhafteten Mann zu ihrem Spitzenkandidaten erkor. Es irrten auch diejenigen, die glaubten, Barak würde mit seiner Aufgabe wachsen. Das Umdenken, das dringend geboten gewesen wäre, fand nicht statt. Nicht nur, weil Barak dazu das geistige Format gefehlt hat. Die israelische Gesellschaft als ganzes ist dafür noch nicht bereit.

Dabei gab es immer wieder hoffnungsvolle Ansätze. Das erste Mal zu Beginn des Libanon-Krieges 1982, als große Teile der israelischen Öffentlichkeit in Widerspruch zu der als Vorwärtsverteidigung definierten Sicherheitsdoktrin gerieten und in der Folge die Friedensbewegung kontinuierlich anwuchs. Als 1995 »Friedenspremier« Rabin von einem zionistischen Fanatiker ermordet worden war, schien es, als hätte ein gesellschaftliche Mehrheitsspektrum die Wechselwirkung von Aggression nach außen und Aggressivität im Inneren erkannt. Doch kein halbes Jahr später setzten sich bei den Parlamentswahlen wiederum die Kräfte der Konfrontation durch.

Obwohl die Macht des Zionismus über die Hirne der Menschen keineswegs mehr ungebrochen ist und sich bei Umfragen immer wieder Mehrheiten für eine Friedenslösung mit den Palästinensern finden, dominieren im Massenbewußtsein nach wie vor ein chauvinistisches Überlegenheitsgefühl gegenüber der arabischen Umwelt sowie die Angst um die Bedrohung der nationalen Exklusivität Israels als »Staat des jüdischen Volkes«. Diese Mentalität bestimmte die Position Baraks in den Verhandlungen mit Arafat. Deshalb mußten sie scheitern. So konnte der zurückgetretene Premier weder die Friedenshoffnungen seiner Landsleute erfüllen noch jenen imponieren, für die es nach wie vor nationaler Konsens zu sein hat, mit den rabern »Tacheles« zu reden.

Werner Pirker