web.de, 10.12.2000 21:20

Türkei besteht auf Einführung von neuem Zellensystem

Hungerstreikende fordern Unterbringung in Gruppen von mindestens 15 bis 20 Personen
- Landesweite Demonstrationen

Istanbul (AP)

Im Streit um das türkische Haftsystem besteht die Regierung trotz des so genannten «Todesfastens» Hunderter Häftlinge auf der Einführung von Kleinzellen. Justizminister Hikmet Sami Türk sagte am Sonntag, das gegenwärtige System, in dem bis zu hundert Häftlinge offen in einer Abteilung untergebracht sind, müsse definitiv beendet werden. Dagegen kündigten die Häftlinge am 52. Tag ihres Hungerstreiks an, die Aktion fortzusetzen.

Die Gefangenen, die überwiegend linksgerichteten Gruppen angehören, fürchten, bei Verlegung in kleinere Zellen Übergriffen von Aufsehern schutzlos ausgeliefert zu sein. Sie bestehen nach Angaben eines Vermittlers auf Blöcken mit mindestens 15 bis 20 Insassen. Die Regierung wendet dagegen ein, verbotene politische Gruppen würden die Blöcke zur Indoktrination nutzen. Zudem begünstige das gegenwärtige System Geiselnahmen und Revolten.

Türk hatte am Samstag angekündigt, die neuen Zellen sollten erst dann belegt werden, wenn eine Vereinbarung mit den Hungerstreikenden getroffen sei. Die Regierung in Ankara erwägt zudem, einige Häftlinge in eine am Freitag vom Parlament beschlossene Amnestieregelung aufzunehmen. Derzeit prüft Präsident Ahmet Necdet Sezer die Amnestieregelung, die für die Hälfte der insgesamt 72.000 Häftlinge gelten soll.

Mindestens drei der Hungerstreikenden schwebten am Sonntag laut Berichten von Angehörigen in Lebensgefahr, weitere können nicht mehr sehen oder leiden an Nierenproblemen. In Istanbul kam es am Samstag während einer Kundgebung zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und Hunderten Menschenrechtsaktivisten, Anwälten sowie Angehörigen von Häftlingen. Dabei wurden Medienberichten zufolge 200 Personen festgenommen. In Ankara protestierten etwa 1.000 Menschen friedlich für die Anliegen der Häftlinge. Am Sonntag demonstrierten etwa 5.000 Menschen in der südtürkischen Stadt Adana. Menschenrechtsgruppen verweisen darauf, dass in türkischen Gefängnissen häufig gefoltert werde.

Die türkische Nationalversammlung hatte am Freitag ein umstrittenes Amnestiegesetz gebilligt, durch das fast die Hälfte der 72.000 Insassen der Gefängnisse des Landes mit ihrer baldigen Freilassung rechnen kann. Gegen die Amnestie gibt es Widerstand in weiten Teilen der Bevölkerung, besonders bei Angehörigen von Verbrechensopfern und in konservativen Kreisen. Deshalb hatte Sezers Vorgänger Süleyman Demirel im letzten Jahr gegen ein ähnliches Gesetz sein Veto eingelegt.

Das Gesetz sieht die Reduzierung von Freiheitsstrafen um bis zu zehn Jahren vor und würde zur Freilassung von über 35.000 Häftlingen führen. Ausgeschlossen von dem Straferlass sind Personen, die wegen Verrats und anderer staatsfeindlicher Taten verurteilt wurden, Vergewaltiger sowie wegen Korruption verurteilte Staatsbeamte und Rauschgifthändler, nicht dagegen Mörder. Todesstrafen werden in lebenslange Freiheitsstrafen verwandelt, was wiederum nicht für verurteilte Landes- und Hochverräter wie den Chef der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, gilt. Hauptziel der Amnestie ist es, die Lage in den hoffnungslos überfüllten türkischen Strafanstalten zu entspannen.