junge Welt, 09.12.2000

Hoffnung und Resignation

Für viele Iraker sind die Sanktionen inzwischen zum Normalzustand geworden.

Von Sonja Wallenborn (*)

Die Statistik spricht noch immer für sich. Im Oktober 2000 sind im Irak 2 406 Kinder an Unterernährung gestorben, im Oktober 1989 waren es 73. An Diabetes starben im Oktober 2000 zehnmal so viele Menschen wie im Oktober 1989, ähnlich die Steigerungsrate beim Tod durch bösartige Geschwulste. Fast die Hälfte der Bevölkerung leidet unter Mangelernährung. Vor 1990 betrug der durchschnittliche Verbrauch 3 581 Kilokalorien pro Person. Heute sind es trotz des erweiterten Öl-für-Lebensmittel-Programms nur 2 033. Frisches Gemüse, Obst und Fleisch sind für viele immer noch Luxus. Nach zehn Jahren des Mangels - einschließlich einer wahren Hungersnot Mitte der 90er Jahre - hat sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung noch nicht regeneriert. Die Verseuchung der Umwelt infolge von Krieg und Embargo tut das ihrige.

Anläßlich des Fastenmonats Ramadan, in dem die Menschen tagsüber nichts zu sich nehmen, aber nachts ausgiebige Mahlzeiten genießen, hat die irakische Regierung die Lebensmittelrationen, die sie seit der Verhängung des Embargos verteilt, erhöht, da der Wert des irakischen Dinar gestiegen ist.

Da das Sanktionskomitee viele Lieferungen in den Irak verhindert und sämtliche Einnahmen unter Kontrolle der Vereinten Nationen stehen, wovon 25 Prozent für Reparationen verwendet werden und ein weiterer Teil für die UNO-Mitarbeiter, macht man sich im Irak Gedanken darüber, ob es sich überhaupt lohnt, unter diesen Umständen Erdöl zu verkaufen. Es wird über einen Exportstopp nachgedacht - zumindest bis die blockierten Handelsgeschäfte im Wert von mehr als zehn Milliarden US-Dollar freigegeben und umgesetzt werden. Das Sanktionskomitee moniert sogar die Mengen an Seife, die Irak bestellt - diese seien außergewöhnlich hoch und weckten den Verdacht, Irak wolle Substanzen aus der Seife militärisch nutzen. Daß die extreme, langanhaltende Hitze im Irak unter Embargobedingungen (Ausfall von Kühlsystemen) besonders sorgfältige Hygienemaßnahmen erfordert, wird vom Komitee ignoriert. Nach Angaben des Nahost- Wirtschaftsausschusses MEES hat der Irak die Erdölkunden bereits aufgefordert, einen Teil des Entgeldes auf ein Konto zu überweisen, das nicht unter UN-Kontrolle steht.

Das Embargo ist für viele Iraker nach so langer Zeit um »Normalzustand« geworden. Manche sagen, daß sein Ende eine große Umstellung bedeuten werde. Dieses Ende scheint nah: Beinahe täglich landen Flugzeuge aus verschiedenen Ländern in Bagdad, um gegen das Embargo zu demonstrieren und die Isolation zu brechen. Auch aus Deutschland wird am 11. Dezember ein Airbus 320 zum ersten Direktflug nach Bagdad starten, organisiert vom Deutsch-Arabischen Friedenswerk und unter Beteiligung irakischer Emigrantengruppen, großer deutscher Firmen, der Deutsch- Irakischen Gesellschaft und weiterer Freunde Iraks. Es sind noch einige der 180 Plätze frei.

Immer mehr Völkerrechtler halten das Embargo gegen Irak für illegal. Die weltweit zu vernehmenden lauten Stimmen gegen die Blockade haben sich auf die Stimmung in Bagdad ausgewirkt. Freude, Stolz und Hoffnung sind groß auf offizieller Seite und auch bei politisch aktiven Irakern, selbst wenn diese nicht zu den Privilegierten gehören und sehr unter dem Embargo gelitten haben. Sie sind stolz auf die Leistung, mit Geduld und Opferbereitschaft erfolgreich den eigenen Standpunkt verteidigt zu haben. Man rechnet nicht mit einer Aufhebung des Embargos durch den UNO-Sicherheitsrat, aber mit einer baldigen Erosion durch internationalen Druck.

Bei den weniger politisch aktiven Menschen im Irak ist eher - wie schon seit Jahren - eine Art Resignation zu spüren, die zum Beispiel zu einer Rückbesinnung auf die Religion führen kann. Diese Menschen fühlen sich den Umständen ausgeliefert und sehen keine Hoffnung auf Besserung. Durch den Koran, der besagt, daß nur Gott über das Schicksal der Menschen entscheidet, fühlen sie sich bestätigt und getröstet. Junge Leute Mitte 20 haben nichts anderes als Kriege und Embargo erlebt. Viele konnten zwar trotzdem ihre, den Umständen entsprechend gute Ausbildung genießen, aber zum Beispiel niemals Bagdad verlassen, geschweige denn den Irak, so wie es die vorherige Generation konnte. Trotzdem stehen sie zu ihrem Land.

Die meisten Iraker sind zu einem einfachen Leben gezwungen. Eine junge Lehrerin verdient zum Beispiel 3 000 irakische Dinar, doch ein Ei kostet schon 30 Dinar. Die Familien leben auf engstem Raum, denn auch Wohnraum ist unerschwinglich. Aufgrund des dadurch entstehenden Stresses sind viele Menschen chronisch krank. Viele Familien sorgen sich um ein krankes Kind.

Nie gab es im Irak so viele Leute, die soviel reicher waren als die große Mehrheit der Bevölkerung, die in Armut versinkt. Es sind Händler und Spekulanten, die die Situation für sich zu nutzen verstehen. Dieses Mißverhältnis wieder auszugleichen, dürfte viele Jahre brauchen, zumal die gesamte soziale Beziehungsstruktur in der Gesellschaft beschädigt ist.

Im Moment scheinen die Iraker allerdings mehr vom Unrecht in Palästina bewegt: Alle sprechen von Mohammed Al Durah, dessen Ermordung durch israelische Soldaten mehrmals im Fernsehen gezeigt wurde, und von den nun mehr als 300 getöteten Palästinensern. Irak tritt für einen Staat Palästina ein, in dem Moslems, Juden und Christen gleichermaßen leben können.

Mitte November trafen sich in Bagdad Vertreter der Vereinigung blockfreier Studenten- und Jugendorganisationen (NASYO) zum ersten Workshop über die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts für die Jugend. Der Workshop behandelte aktuelle Themen wie Globalisierung und Medienmacht. Gerade die Globalisierung wird auch von Kritikern in den Entwicklungsländern als »Weltbeherrschungsinstrument« der USA und anderer westlicher Mächte denn als Instrument für wirtschaftlichen Fortschritt gesehen. Der dominierende Westen verbreite keine Informationen, sondern betreibe psychologische Kriegführung durch die massenhafte Verbreitung seiner Medien bis in die ärmsten Länder hinein, bevor diese die Möglichkeit hätten, ihre eigenen Medien mit eigenen Inhalten aufzubauen, wurde auf der Konferenz betont. Das ist einer der Gründe, warum Satellitenfernsehen und Internet kritisch betrachtet werden. Der Irak hat inzwischen einige Internet-Anschlüsse, die nur einem Bruchteil der Bevölkerung zugänglich sind. Die Wartezeiten auf einen Computerplatz selbst für Studenten sind unerträglich lang. Wegen des Embargos kann die Bevölkerung auch nicht mehr ausreichend mit Zeitungen versorgt werden. Bis heute verbietet das Sanktionskomitee dem Irak, die Maschinen und Güter zu importieren, die eine Pressearbeit in ausreichendem Umfang ermöglichen würde.

(*) Sonja Wallenborn ist Vorstandsmitglied im Deutsch- Arabischen Friedenswerk und reist seit 1993 regelmäßig in den Irak. *** Am 11. Dezember 2000 startet der erste Direktflug von Frankfurt/Main nach Bagdad seit dem Golfkrieg. Mit der Solidaritätsreise, die bis 14. Dezember dauert, soll geholfen werden, das Flugembargo gegen Irak zu brechen. Jeder, der gegen die Sanktionen aktiv werden möchte, kann an dem Flug teilnehmen. Die Gesamtkosten pro Person belaufen sich auf etwa 1 000 Mark.

Ein Visum ist nicht erforderlich. Anmeldungen sind noch bis 10. Dezember möglich. Kontakt: Herr Elia Baz, Tel. 0731-4010849 (Büro), Fax 0731- 481840, E-mail: DL1SEB@t-online.de oder Tel. 069-683073 bzw. 0171/9304126