Frankfurter Rundschau, 8.12.2000

Keine Verfassung, aber doch mehr als ein Stück Papier

Mit der Erklärung von Nizza ist der Weg der EU-Grundrechte-Charta längst nicht zu Ende

Von Martin Winter (Nizza)

Vom Auftrag bis zur Fertigstellung ein Jahr. Für europäische Verhältnisse grenzt das an Lichtgeschwindigkeit. Am Donnerstag erhoben die Staats- und Regierungschefs der EU die Grundrechte-Charta feierlich in den Rang einer politischen Erklärung. Das ist weniger als eine Verfassung, aber auch nicht nur ein Stück Papier.

Eigentlich hatte die deutsche Regierung, die die Idee einer Grundrechte-Charta im Juni 1999 während ihrer EU-Ratspräsidentschaft auf dem Gipfel in Köln auf den Tisch der Union gelegt hatte, an eine Aufnahme des Rechtekatalogs in die europäischen Verträge gedacht. Doch dem standen massive Bedenken, vor allem aus Großbritannien aber auch aus einigen nordischen Staaten entgegen. Die lehnen jede Art von europäischer Verfassung aus der Furcht ab, dass man sich damit auf den Weg zu einem europäischen Bundesstaat begeben könnte. So blieb dem EU-Gipfel in Nizza jetzt nur der Weg einer "Erklärung". Damit ist die von einem Konvent unter Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog in neun Monaten erarbeitete und in Form einer Verfassung geschriebene Charta für den europäischen Bürger nicht direkt nutzbar. Er kann mit ihr nicht zu Gericht gehen und klagen.

Aber das heißt nicht, dass die Charta nutzlos wäre bei der Sicherung der Grundrechte in der EU. Als "Erklärung" drückt sie den politischen Willen der Mitgliedsstaaten aus und damit können der Europäischen Gerichtshof, aber auch Gerichte in den einzelnen Ländern bei der Auslegung europäischen Rechtes darauf zurückgreifen. In der Praxis vor allem des Gerichtshofes in Luxemburg kann das von großer Bedeutung sein. Schon heute bedient man sich dort bei der Interpretation des EU-Rechtes auch anderer als rein rechtlicher Quellen.

So könnte, wenn auch durch die Hintertür, erreicht werden, was der eigentliche Sinn der Charta ist: dem europäischen Bürger erstmals in der Geschichte der EU ein Instrument an die Hand zu geben, seine Rechte individuell gegen die Union durchzusetzen. Die in mehr als 50 Artikel unterteilte Charta reicht von den klassischen Freiheitsrechten der Bürger bis zu sozialen und wirtschaftlichen Rechten. Verfassungsrechtliches Neuland betritt die Charta mit dem Verbot des "reproduktiven Klonens von Menschen".

Mit der Erklärung von Nizza ist der Weg der Grundrechte-Charta allerdings noch nicht zu Ende. Auch wenn die Chancen noch recht gering sind, sie eines Tages als Bestandteil einer europäischen Verfassung zu verabschieden, wird über ihren Rang weiter politisch verhandelt werden. Denn in Nizza werden sich die Staats- und Regierungschefs auf besonderes Drängen der Deutschen wohl an diesem Wochenende darauf einigen, von zirka 2004 an eine weitere Reformanstrengung zu beginnen. Dann soll über eine klarere Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedsländern verhandelt werden - ein besonderer Wunsch der deutschen Bundesländer.

Das wildwuchsähnliche europäische Vertragssystem soll übersichtlicher und damit bürgerfreundlicher neugeordnet werden. Und es soll der Einstieg in eine europäische Verfassungsdiskussion gesucht werden, zu deren Kern die Grundrechte-Charta notwendig gehören müsste.