Süddeutsche Zeitung, 7.12.2000

Die Truppe steht

Die EU gibt sich eine Armee - nach deren Rolle sucht sie noch / Von Udo Bergdoll

Falls das Gipfeltreffen nicht an nationalen Egoismen scheitert, wird Europa am Ende dieses Jahrzehnts sehr viel größer und auch enger verflochten sein als heute. Dann wird sich auch eine Armee der EU aufgebaut haben, nicht nach klassischem Muster, sondern in ganz neuem Zuschnitt. Auf dem weiten Weg von der Vision europäischer Identität im Bereich militärischer Sicherheit bis zur Selbstbehauptung in der Praxis müssen die Staats- und Regierungschefs nun in Nizza weitere Weichen stellen. Ganz einig ist man sich noch nicht, welche Rolle die schnelle Eingreiftruppe der EU neben der Diplomatie auf der Weltbühne spielen soll. Intern gerungen wird vor allem noch um das Verhältnis zum Nato-Bündnis und damit zu den USA.

Bisher steht fest: Die europäische Armee soll 60 000 Mann innerhalb von 60 Tagen mobilisieren und ein Jahr lang überall in der Welt operieren können. Es wird kein stehendes Heer geben. Die europäischen Streitkräfte sollen für den jeweiligen Bedarf neu zusammengestellt werden. Die dafür gemeldeten Einheiten gehören weiter den nationalen Armeen an und sind meistens auch mit der Nato assoziiert. Der größte Truppensteller wird Deutschland sein, gefolgt von Frankreich und Großbritannien. Auf der "Geber-Konferenz" in Brüssel haben kürzlich zunächst die Verteidigungsminister der EU-Staaten ihre Beiträge angemeldet. Dann ließ die Nato wissen, mit welchen Fähigkeiten und welchem Material sie die Europäer unterstützen kann. Der nächste Schritt wird vom Gipfel in Nizza erwartet. Die Europäer müssen sagen, wie sie sich die Beteiligung der sechs Nato-Staaten vorstellen, die nicht oder noch nicht der EU angehören. Das sind Polen, Tschechien, Ungarn, Norwegen, Island und auch die Türkei, die in die EU strebt und ihre Stimme im Nato-Rat als Hebel einsetzt. Ohne Zustimmung Ankaras sind keine Vereinbarungen zwischen Nato und EU möglich.

Bei der Konferenz in Brüssel haben Länder wie Polen oder die Türkei bereits Beiträge für die schnelle Eingreiftruppe angemeldet. Nun müssen die 15 heutigen EU-Mitglieder erläutern, wie sie sich die Mitwirkung all derer vorstellen, die nicht am Tisch in Brüssel sitzen, aber größten Wert darauf legen, ihre europäische Identität demonstrieren zu können. Auch Länder wie Estland, die Slowakei oder Rumänien haben der Union schon Truppen angeboten.

In Nizza sollen die bisher provisorischen Gremien, das politische und sicherheitspolitische Komitee und der Militärausschuss, zu ordentlichen Gremien werden. Wann potenzielle Truppensteller wie Norwegen oder die Türkei hinzugezogen werden - von Anfang an oder erst, wenn über einen Militäreinsatz entschieden ist - das steht noch nicht fest.

Frankreichs Sorge

Wie oft sich die Gremien der EU und der Nato treffen werden? Dahinter verbirgt sich die Frage der Transparenz, und dahinter die der langfristigen Rolle der Eingreiftruppe. Es geht vor allem um die Mitwirkungsmöglichkeiten der USA und Kanadas. Aus der Sicht Fankreichs muss eine schleichende "Natoisierung" der EU-Streitkräfte verhindert werden. Deutsche und Briten streben aber nicht eine so weitgehende Autonomie wie die Franzosen an, die zu einer Verdoppelung militärischer Strukturen bereit sind.

Es war eine politische Sensation, dass die 15 in Brüssel den deutschen Generalleutnant Rainer Schuwirth zum Direktor des Militärausschusses, der Keimzelle eines EU-Generalstabs, beriefen. Paris, auf die Durchsetzung des französischen Führungsanspruchs bedacht, hatte diese Funktion für sich beansprucht und zeigte sich düpiert. Schuwirth wurde dem französischen Bewerber vorgezogen, weil die Mehrheit damit nicht nur persönliche Kompetenz, sondern auch politische Gewähr für transatlantische Zusammenarbeit sichergestellt sah. Schließlich soll die EU-Eingreiftruppe der Nato keine Konkurrenz machen, sondern sie stärken.