taz 7.12.2000

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PRO: Die EU-Verträge sollen um eine Grundrechtecharta ergänzt werden. Sie ist leider ein Minimalkonsens. Doch nur wenn die Charta existiert, lässt sie sich reformieren

Es ist fest eingeplant: Die fünfzehn EU-Regierungschefs wollen auf ihrem aktuellen Gipfel in Nizza die europäische Grundrechtecharta verabschieden. Und während die Politiker dies mit Sekt begießen, wird es auf dem Gegengipfel der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nochmals zu heftigen Diskussionen kommen. Die NGOs stecken in einem Dilemma. Die Mängel der Charta sind unbestreitbar, vor allem was die sozialen Rechte wie etwa den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung angeht. Doch wäre jeder Versuch, die Charta jetzt noch zu verändern, aussichtslos und sogar gefährlich: Ein sehr wackeliger Kompromiss zwischen den unterschiedlichen nationalen Grundrechtstraditionen würde hiermit in Frage gestellt. Die Alternative ist also nur: diese Charta oder keine. Und es wäre politisch falsch, ganz auf eine Grundrechtecharta zu verzichten.

Denn es darf nicht länger so sein, dass Menschenrechte in Europa nicht eingeklagt werden können, wenn sie durch Gesetze verletzt werden, die aus Brüssel stammen. Insbesondere das europäische Wettbewerbsrecht weicht die sozialen Rechte immer mehr auf, die in den einzelnen Nationalstaaten eigentlich garantiert sind.

So lässt sich der Fall konstruieren, dass ein privates Altersheim dagegen klagt, dass gemeinnützige Altenheime mit staatlichen Mitteln unterstützt werden. Diese Klage hätte bisher Aussicht auf Erfolg. Doch gerade ärmere alte Menschen sind auf die subventionierten Heime angewiesen. Gäbe es eine Grundrechtecharta: Die betroffenen Älteren könnten sich auf das Zugangsrecht zu sozialen Diensten berufen und dadurch einklagen, dass die Wettbewerbsbestimmungen so verändert werden, dass die Grundrechte der Bedürftigen gewahrt bleiben.

Es wäre allerdings falsch zu behaupten, dass die EU momentan eine vollkommen grundrechtsfreie Zone darstellt. So stützt sich der Europäische Gerichtshof bei der Auslegung von EU-Gesetzen und -Erlassen auf die Europäische Menschenrechtskonvention und auch die Traditionen der Nationalstaaten. Aber - und dies ist statistisch fast unglaublich - es gibt bisher keinen einzigen Fall, in dem ein EU-Gesetz als grundrechtswidrig erklärt wurde. Eine Grundrechtsklage müsste aber genau dies zulassen und ist somit eine gemeinsame Forderung von den NGOs.

Kritiker weisen nun darauf hin, dass die geplante Grundrechtecharta nur so genannte Abwehrrechte definiert - wie im Beispiel mit den Altenheimen. Wichtig sei jedoch auch, dass eine europaweite Sozialpolitik einklagbar ist, die zum Beispiel in allen Mitgliedsstaaten eine Mindesthöhe der Arbeitslosenunterstützung vorschreiben und sichern würde.

Das stimmt, dennoch sollte man deswegen die Charta nicht ablehnen. Wenn sie erst einmal existiert - dann lässt sie sich auch reformieren. Die politische Diskussion, gerade über die sozialen Rechte, hat nur unzureichend stattgefunden und muss nachgeholt werden. Ausgerechnet die kritisierte Charta unterstützt diese Forderung der NGOs: Denn mit der Grundrechtecharta hat die EU das Prinzip der Unteilbarkeit der Menschenrechte ausdrücklich anerkannt. Zudem wird in der Präambel betont, dass Solidarität ein grundlegendes Prinzip der EU ist. Wie aber soll dieses Prinzip in Zeiten der Osterweiterung in der Praxis aussehen? Dies ist nur eine der provokanten Fragen, die sich aus der Grundrechtecharta ableiten lassen.

Während sich die fünfzehn Regierungschefs in Nizza auf die Machtverteilung im künftigen Europa konzentrieren, sollten die NGOs auf ihrem Gegengipfel an einer Strategie arbeiten, wie sie die in der Charta verankerten Grundrechte politisch wirksam einfordern können.

UTE HAUSMANN

Ute Hausmann ist Diplom-Entwicklungspolitologin und hat in Bremen und in Finnland studiert. Aufenthalte u. a. auch in Ecuador, Dänemark, Namibia, Kenia. Sie ist Mitarbeiterin bei Fian, der "internationalen Menschenrechtsorganisation für das Recht sich zu ernähren".