Die Welt, 7.12.2000

Asyldebatte verlagert sich in die EU

Bundesregierung kritisiert Brüsseler Pläne zur Drittstaatenregelung

Von Roland Nelles

Berlin - Eigentlich wollte die Bundesregierung die schwierige Diskussion über eine Neuregelung der Themen Asyl und Zuwanderung auf die lange Bank schieben. Mit der Einsetzung der Einwanderungskommission unter Leitung der CDU-Politikerin Rita Süssmuth, die ihre Ergebnisse erst im kommenden Sommer vorlegen soll, schien dies zunächst auch gelungen. Doch nun blickt man seit einigen Tagen nervös nach Brüssel: Dort kursieren Entwürfe der EU-Kommission für eine einheitliche europäische Asyl- und Zuwanderungspolitik, die die gesamte Diskussion in Deutschland über diese Themen auf den Kopf stellen könnten. Als erstes Regierungsmitglied hat Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) Alarm geschlagen. Seiner Ansicht nach ist der neue Richtlinienentwurf des zuständigen EU-Kommissars Antonio Vitorino zur gemeinsamen Asylpolitik als Arbeitsgrundlage nur bedingt geeignet. Man könne den Entwurf ja, so Schily spitzbübisch, als Arbeitsgrundlage nehmen, "ohne dass viel davon übrig bleibt".

Die Asylexperten in der Regierung stören vor allem die Aussagen über die so genannte Drittstaatenregelung. Diese ist Bestandteil des deutschen Asylkompromisses von 1993. Sie ermöglicht die Abweisung von Asylbewerbern, wenn diese über ein sicheres Drittland nach Deutschland einreisen. Nach dem Vitorino-Entwurf würde dies künftig erschwert. Die Abweisung soll deutschen Behörden nämlich nur noch dann erlaubt sein, wenn der Asylbewerber zu dem Drittland bereits eine Art von Bindung hat, also etwas Bekannte dort besitzt. Deutschland würde damit, so die Experten, hinter den Stand des Asylkompromisses zurückfallen.

Für Unmut sorgt in Berlin aber auch eine andere Ausländerrichtlinie aus Brüssel, die bereits seit längerem in der Diskussion ist. Sie soll den so genannten Familiennachzug regeln. In dem Entwurf der EU-Richtlinie ist vorgesehen, dass nicht nur Familienangehörige von Ausländern nachziehen dürfen. Vielmehr kann eine Zusammenführung auch dann erfolgen, wenn "eine auf Dauer angelegte Beziehung" nachgewiesen wird. Dieses Verfahren öffnet nach Ansicht von Experten dem Missbrauch Tür und Tor und würde gerade in Deutschland zu einer neuen "Einwanderungswelle" führen.

Wie bei der Asylrichtlinie hat Innenminister Schily auch bei der Richtlinie zum Familiennachzug seinen Widerstand angekündigt. Schützenhilfe erhält er hier von der CDU/CSU. Die Union lehnt die Projekte ebenfalls ab. Ob sich Schily allerdings in seinen eigenen Reihen mit dieser Linie wird durchsetzen können, ist fraglich. Schilys Parteifreunde im Europäischen Parlament und auch die Grünen unterstützen die Vorschläge der Kommission.

In der rot-grünen Koalition herrscht eine Mehrheitsmeinung vor, die besagt, dass beim Thema Asyl ein betont liberaler Kurs verfolgt werden sollte. In diese Linie passt auch die Aufhebung des Arbeitsverbots für Asylbewerber, die die Koalition gestern offiziell beschlossen hat. Die neue Verordnung tritt am 1. Januar in Kraft. Als Einschränkung wurde festgelegt, dass neu eingereiste Asylbewerber ein Jahr warten müssen, bevor sie eine Arbeit aufnehmen dürfen. Durch die neue Regelung erhalten nach Angaben der Bundesregierung rund 85 000 der insgesamt 120 000 Asylbewerber in Deutschland sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt.