Die Presse (A), 6.12.2000

Straßburg beugt Aushöhlung der EMRK vor

Der Gerichtshof für Menschenrechte verbietet den EU-Staaten, sich durch Übertragung von Kompetenzen an die EU der Bindung an die Menschenrechtskonvention zu entziehen.

WIEN/STRASSBURG (kom). Viele Experten hätten es vorgezogen, wenn die EU der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beigetreten wäre, statt eine eigene Grundrechtscharta zu verfassen. Diese kann in weiten Teilen ohnehin nur die EMRK wiedergeben, doch besteht dabei die Gefahr, daß durch eine unterschiedliche Textierung Unklarheiten bei der Auslegung entstehen. Der EU-Gerichtshof in Luxemburg hat jedoch keine Kompetenz der EU für einen Beitritt zur EMRK gesehen. Mit der Ausarbeitung einer eigenen Charta scheint dieses Thema nun vollends vom Tisch zu sein. Weil aber alle EU-Staaten Mitglieder der EMRK sind, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein Wörtchen mitzureden. Er hat im Vorjahr betont, daß sich die EU-Staaten nicht der Bindungen an die Konvention entziehen können, indem sie Kompetenzen an die EU übertragen. Anlaß der Entscheidung im Fall "Matthews gegen Vereinigtes Königreich" war ein Streit über das Wahlrecht zum EU-Parlament in Gibraltar. Die Halbinsel im Süden Spaniens ist ein "abhängiges Gebiet" des Vereinigten Königreichs. Gibraltar ist zwar aufgrund des britischen EU-Beitrittsvertrags von Teilen des Gemeinschaftsrechts ausgenommen (z. B. freier Warenverkehr), ansonsten gehört es aber zur Union und ist damit an deren Rechtssetzung gebunden. Dessen ungeachtet war in Gibraltar 1994 nach EU- und britischem Recht eine Wahl zum Europaparlament (das freilich bei der EU-Rechtssetzung eine nicht annähernd so wichtige Rolle spielt wie nationale Parlamente bei der Gesetzgebung) nicht vorgesehen. Frau Matthews machte deshalb eine Verletzung des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK geltend: Artikel 3 verlangt, daß das Volk bei der Wahl der gesetzgebenden Organe seine Meinung frei äußern kann. Der Gerichtshof folgte Matthews: "Die Konvention schließt die Übertragung von Kompetenzen an internationale Organisationen nicht aus, sofern die Konventionsrechte gesichert bleiben", so der Gerichtshof. "Die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten dauert daher über eine solche Übertragung hinaus an." Großbritannien müsse deshalb das Wahlrecht in Gibraltar gewährleisten, egal, ob es sich um staatliche oder europäische Wahlen handle.