Neue Zürcher Zeitung (CH), 6.12.2000

Warnung vor Dissens zwischen Nato und EU

Deutliche Worte der US-Delegation in Brüssel

Bei der Erörterung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) im Kreis der Nato-Verteidigungsminister haben die USA einmal mehr vor Doppelspurigkeiten und Rivalitäten gewarnt. Trotz positiver Beurteilung der Lage im Balkan sprachen sich die Minister gegen eine Reduktion der Truppen in Bosnien und Kosovo aus.

lts. Brüssel, 5. Dezember

Einen Tag nachdem die EU-Aussenminister die Grundlagendokumente zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) verabschiedet hatten, war diese auch ein Thema imKreis der in Brüssel zur ordentlichen Wintertagung versammelten Nato-Verteidigungsminister. Nato-Generalsekretär Robertson rief in Erinnerung, die künftigen sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen der Nato und der EU, die Modalitäten eines Rückgriffs der EU auf Nato- Ressourcen und der Einbezug der nicht zur EU gehörenden europäischen Bündnispartner in die ESVP-Aktivitäten müssten erst noch ausgehandelt werden. Der amerikanische Verteidigungssekretär Cohen wiederholte seine grundsätzlich positive Haltung gegenüber der ESVP. Er warnte seine europäischen Kollegen indes einmal mehr unverblümt vor den Doppelspurigkeiten und Rivalitäten in der militärischen Planung, die für die Schlagkraft des Nordatlantikpaktes verheerende Konsequenzen hätten. Er trat für eine sehr enge politische und institutionelle Verzahnung von Nato und der ESVP ein.

Optimistischer Rudolf Scharping
Der deutsche Verteidigungsminister Scharping bestätigte die nach wie vor bestehenden Knackpunkte in den Verhandlungen mit der Nato sowiedie noch nicht ausgeräumten Vorbehalte der Türkei, aber auch Norwegens oder Polens gegenüberden EU-Vorstellungen über die Beteiligungsrechte von Drittstaaten an der ESVP. Für Ankaraist die Zustimmung zur Freigabe von Stäben, Einrichtungen und Mitteln der Nato für ESVP-Zwecke direkt verknüpft damit, dass die EU garantiert, die in der Nato für die europäische Sicherheit mitverantwortlichen Partnerstaaten ohne EU-Mitgliedschaft in der ESVP nicht zu marginalisieren. Nach Einschätzung von Scharping zeichnensich aber sowohl bei den vertraglichen Dauerbeziehungen zwischen der EU und der Nato wieauch bei den Konsultations- und Beteiligungsregeln im Verhältnis der EU zu den europäischen Nato-Partnern ausserhalb der EU sehr gute Lösungen ab. In unmissverständlicher Abgrenzung zu Frankreich, das immer wieder auf einemin allen Bereichen autonomen sicherheitspolitischen Auftreten der EU beharrt und so das Misstrauen der USA schürt, bekannte sich Scharpingvor den Medien vorbehaltlos zu einer einheitlichen, gemeinsamen sicherheitspolitischen Planung in Nato und EU. Von der ESVP versprach sich der Minister längerfristig einen doppelten politischen Gewinn. Sie führe zu einer engeren Kooperation auch von neutralen EU-Mitgliedstaaten mit der Nato und stärke die Beziehungen zwischen der EU und jenen Nato-Staaten, die der Brüsseler Gemeinschaft (noch) nicht angehörten.

Absage an unabhängiges Montenegro
Zur Lage auf dem Balkan äusserten sich die Nato-Verteidigungsminister vorsichtig optimistisch. Sie registrierten die erhöhte sicherheitspolitische Stabilität, bestätigten das entschlosseneVorgehen gegen Kriegstreiber in der Sicherheitszone zwischen Kosovo und Serbien, und sie begrüssten die politische Entwicklung in Serbien. Sie sprachen sich für ein ungeteiltes Jugoslawien und gegen ein unabhängiges Montenegro aus und liessen den definitiven Status von Kosovo weiterhin offen. Nach Aussagen von Nato-Offiziellenwächst allerdings die Ungeduld mit Bosnien. Obschon die internationale Gemeinschaft in den fünf Jahren nach Dayton rund vier Milliarden Dollar in den Wiederaufbau investiert habe, gebe es noch immer keinen Ansatz für eine selbsttragende Wirtschaft. Die Exponenten der drei ethnischen Gruppierungen in Bosnien zeigten keine Bereitschaft, endlich gemeinsam einige effiziente staatliche Institutionen für ganz Bosnien aufzubauen.

Trotz diesem Unmut und ungeachtet der generell verbesserten Sicherheitslage auf dem Balkannach dem Sturz von Milosevic wollen die Minister aber an der militärischen Präsenz festhalten,und sie sprachen sich gegen übereilte Truppenreduktionen aus. Dieses Bekenntnis zur fortgesetzten Verantwortung für die Stabilität in derRegion schliesst allerdings mittelfristige Überlegungen nicht aus, die schon einmal von 32 000 auf 20 000 Mann reduzierten Sfor-Bestände in Bosnien noch etwas zu verkleinern. In Kosovo wird ein vermehrter Austausch von Kampfeinheiten gegen Formationen mit Erfahrung in friedenserhaltenden Operationen erwogen.

An jedem Treffen der Nato-Verteidigungsminister werden die Fortschritte zur Verbesserung der militärischen Fähigkeiten überprüft. Erstmals sei der Trend ständig sinkender Verteidigungsausgaben gebrochen worden, aber nach wie vor bestehe ein grosser Nachholbedarf an «hard cash»,fasste Robertson die Lage zusammen. Positiv vermerkt wurde von den Nato-Verteidigungsministern, dass sich erstmals seit dem Kosovo-Krieg der russische Kollege, Marschall Sergejew, wieder mit ihnen an einen Tisch gesetzt habe und eine Rückkehr zu konstruktiver Zusammenarbeit im Nato-Russland-Rat in Aussicht stellte.