junge Welt, 06.12.2000

Europa macht die Tore dicht

Einwanderung, Vertragsreformen und Grundrechte - der EU-Gipfel von Nizza ist konfliktträchtig

In Nizza schlägt für die EU die Stunde der Wahrheit«, orakelte das Handelsblatt in einer seiner jüngsten Ausgaben. In den Redaktionsstuben der Düsseldorfer Wirtschaftszeitung geht man trotz eines »Zweckoptimismus in den EU-Hauptstädten« von der Gefahr aus, daß der ab Donnerstag tagende Gipfel von Nizza scheitern könnte.

Nach den Amsterdamer Verträgen von 1997 geht es in Nizza um eine erneute Reform der Europäischen Union, die als Voraussetzung für die geplante Osterweiterung gilt. Zumindest soll für einige der zwölf Beitrittskandidaten die Aussicht auf eine Vollmitgliedschaft in der EU erhalten bleiben. Schon heute sind sie durch Assoziierungsabkommen an die EU gebunden, und einige der Profiteure sind schnell ausgemacht. »Vor allem das Exportland Bundesrepublik«, so das Manager-Magazin, »profitiert vom Nachholbedarf der armen Nachbarn«. Der sei gerade im Bereich Maschinen, High-Tech und Konsumgüter »riesig«, konstatiert das Magazin. »Niedrige Löhne und gut ausgebildete Menschen ermöglichen, Teile der Produktion zu erlagern.« Konkrete Beitrittstermine sind dabei so lange von untergeordneter Bedeutung, wie die Regierungen in den potentiellen Beitrittsländern in erster Linie damit beschäftigt sind, mit einer rigiden Sparpolitik ihr Haushaltsdefizit zu reduzieren und die insgesamt 20 000 EU-Gesetze und -Verordnungen in ihre Gesetzgebung umzusetzen, ohne daß sie das Recht hätten, daran auch nur die Interpunktion zu ändern.

»Großmächte« fordern mehr Einfluß

Um die vage Aussicht auf einen mittelfristigen EU-Beitritt zu nähren, vielmehr aber das Konzept eines »Kerneuropa« zu realisieren, in dem die großen Mitgliedsstaaten auch ohne die kleineren ihre Politik umsetzen können, wollen vor allem Deutschland und Frankreich die Entscheidungsfindung innerhalb der EU zentralisieren. So soll das im Amsterdamer Vertrag festgelegte Einheitsprinzip auf Mehrheitsentscheidungen umgestellt werden. Die bevölkerungsreichsten Länder der EU, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien, beanspruchen dabei für die höchsten Entscheidungsgremien - die Regierungsgipfel und Ministerratskonferenzen - ein höheres Stimmengewicht gegenüber den kleineren Mitgliedsstaaten. Für welche der insgesamt 70 Politikbereiche die Mehrheitsentscheidungen gelten sollen, ist allerdings nach wie vor umstritten. Die Bundesregierung in Deutschland lehnt dieses Entscheidungsprinzip etwa für den Bereich der Einwanderungspolitik ab.

Dennoch wollen die Regierungschefs in Nizza auch zur Migration einige Neuerungen in die Wege leiten. Sie sind sich weitgehend einig, daß die »Null-Einwanderungs-Politik der letzten zwanzig Jahre« angesichts neuer Herausforderungen auf dem Weltmarkt »nicht mehr durchzuhalten« sei. Die internationale Konkurrenz um hochqualifizierte Arbeitskräfte ist jedoch von einer Selektion begleitet, die Nicht-EU-Bürger, die keine Qualifikation mitbringen, kategorisch ausschließt. Unklar ist, ob sich die Bewohner der östliche Anrainerstaaten ähnlichen Kriterien unterwerfen müssen. Denn einige Fragen zur Ostererweiterung sind längst nicht gelöst, z. B. die der Niederlassungsfreiheit der eventuellen Ostbürger im »Kerneuropa«.

»Illegale Einwanderung« soll jedenfalls künftig in einem »gestärkten strafrechtlichen Rahmen« geahndet werden, heißt es in einer Direktive der französischen Regierung, die in die Verträge aufgenommen werden soll. Demnach würde »jede direkte oder indirekte Hilfe zum unautorisierten Eintritt, Bewegung oder Aufenthalt« auf europäischem Boden bestraft werden. Das könnte, so die Einschätzung der EU-kritischen Initiative »Statewatch«, bis zu Gefängnisstrafen für Mitglieder von Organisationen führen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Asylbewerber und Migranten ohne Papiere zu unterstützen. Einer von vielen Gründen, warum einige Flüchtlingsorganisationen und antirassistische Gruppen in Europa zu Protesten gegen die Regierungskonferenz in Nizza aufrufen.

Rechtsverbindliche Grundrechte-Charta?

Ein Hauptkritikpunkt der europäischen Mobilisierung gegen die Regierungskonferenz wird die EU-Grundrechte-Charta sein, die voraussichtlich in Nizza proklamiert wird. Von der »Freiheit des Unternehmertums« ist in der Charta die Rede. Ein Passus, der großzügige Spielräume offenläßt, die Rechtsabteilungen der Konzerne in ihrem Sinne interpretieren werden. Eine Sozialpflicht des Eigentums, wie z. B. im Grundgesetz der BRD vorgesehen, ist dort mit keinem Wort erwähnt. Gegenüber den Unternehmerfreiheiten gibt es jedoch keine Garantie sozialer Rechte. Die offizielle Begründung lautet, man könne keine »Versprechungen machen, die in der Zukunft nicht eingehalten werden können.«

Auch ein Recht auf existenzsicherndes Mindesteinkommen, wie von den »Europäischen Märschen gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung« sowie anderen Organisationen gefordert, findet sich nicht in dem Papier. Statt dessen ist die Rede von »sozialer Unterstützung«, die nach »Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten« erfolgen soll. Das ist reine Augenwischerei, denn gerade die Reste einzelstaatlicher Sozialnetze werden derzeit im Rahmen der »wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Leitlinien« der EU in allen Ländern zurechtgestutzt. Dazu gehören die Angriffe auf Altersversorgung und Kündigungsschutz ebenso wie die sukzessive Abschaffung der Arbeitslosenunterstützung. Gegenüber der rituell zur Schau gestellten Einheit und Harmonie auf den EU-Regierungsgipfeln dürfte die Verbundenheit der Demonstration, zu der am Mittwoch 100 000 Teilnehmer erwartet werden, hingegen kaum deutlich werden. Denn eines der zentralen Anliegen der Großdemonstration wird nun völlig unterschiedlich transportiert: die Haltung zur EU-Grundrechte-Charta. Im Gegensatz zu den Euromärschen und anderen sozialen Bewegungen setzt sich der Europäische Gerwerkschaftsbund, der sich maßgeblich an der Großdemonstration beteiligen wird, für eine rechtliche Bindung der vor wenigen Wochen in Biarritz modifizierten Grundrechtecharta ein und will künftig mit »Nachverhandlungen« seine Verbesserungsvorschläge einbringen. Die Euromärsche aber lehnen die Rechtsverbindlichkeit der Charta ab, denn sie befürchten, daß damit ein weiterer Abbau von in der Geschichte erkämpften Rechten der Arbeiterbewegung einhergehen wird.

Gerhard Klas