Neue Zürcher Zeitung (CH), 5.12.2000

Bedenken wegen vorgezogener Wahl in Israel

Ernüchterung unter den Knessetabgeordneten

In Israel haben zahlreiche Abgeordnete Zweifel an der Weisheit des Beschlusses zur vorzeitigen Abhaltung von Wahlen geäussert. Die Bildung einer Notstandsregierung wird erneut erwogen. Vor allem die Kandidatur Netanyahus soll verhindert werden.

gsz. Jerusalem, 4. Dezember

Sechs Tage nach der ersten Lesung in der Knesset über eine Vorlage zur Vorziehung von Neuwahlen in Israel hat unter den Parlamentariern Ernüchterung eingesetzt. Manche der Abgeordneten möchten es sich noch einmal überlegen,ob ihnen ein Wahlgang zur jetzigen Zeit tatsächlich Vorteile bringt. Die Vorlage fand zwar dieZustimmung von fast zwei Dritteln der Abgeordneten, aber ein Grossteil von ihnen wollte Ministerpräsident Barak bloss einen Denkzettel verpassen. Niemand möchte seinen Sitz in der Legislative nach bloss eineinhalb Jahren schon wieder aufs Spiel setzen.

Für das Land und das Volk wäre ein zermürbender halbjähriger Wahlkampf zur jetzigen Zeit sicherlich ungünstig. In Kreisen der Opposition wird zudem befürchtet, dass Barak aus wahlkampftaktischen Überlegungen einen unvorteilhaften Vertrag mit den Palästinensern abschliessen könnte. Und ein veränderter Wahlmodus, derdie geltende Aufteilung der Stimmen für die Parteien und das Amt des Regierungschefs wiederrückgängig machen würde, käme einzig den beiden Grossparteien zugute. Die orthodoxe Shas-Partei, die antiorthodoxe Shinui und weitere, Partikularinteressen vertretende Parteien wehren sich gegen veränderte Spielregeln. Sollte sich dennoch eine Unterstützung für die Änderung abzeichnen, würden die kleinen Parteien sich einer Vorziehung der Wahlen mit aller Kraft widersetzen. Die zweite und die dritte Lesung der Vorlage über Neuwahlen soll dieser Tage vor das Plenum kommen. Es ist denkbar, dass die dafür benötigte absolute Mehrheit nicht zustande kommt.

Allerdings kann Baraks Regierung in der jetzigen Zusammensetzung nicht weiterfunktionieren. Als Alternative zu vorgezogenen Neuwahlen wird erneut die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit erwogen. Angeblich führten GesandteBaraks und des Oppositionsführers Sharon in Geheimverhandlungen bereits diesbezügliche Gespräche. Offizielle Sprecher des Likud dementieren solche Kontakte allerdings. Die grosse Unbekannte stellt der ehemalige Ministerpräsident Netanyahu dar. Als nicht offizieller Anwärter auf das höchste Regierungsamt führt er in allen Meinungsumfragen, doch will er sich nicht zum Kandidaten erklären, solange nicht geklärt ist, ob es überhaupt zu einer Wahl kommt. Eine Alternative zu verfrühten Neuwahlen wäre der Rücktritt des Ministerpräsidenten. In einem solchen Fall sieht das Gesetz die Kürung des neuen Regierungschefs aus den Reihen der amtierenden Parlamentarier vor. Eine Kandidatur Netanyahus wäre damit hinfällig. Es ist aber nicht sehr wahrscheinlich, dass der Kriegsheld Barak diesen eher schmählichen Weg wählen würde.

Der israelische Aussenminister Ben-Ami gab am Wochenende bekannt, Israel werde mit der Ermittlungskommission der Uno kooperieren, die demnächst zur U ntersuchung der Gewaltwelle nach Israel und in die palästinensischen Gebiete kommen soll. Israel fürchte weder die Arbeit noch die Resultate der Kommission, erklärte der Aussenminister. Allerdings sind nicht alle Regierungsmitglieder mit ihm einverstanden, und es gibt sogar innerhalb des Aussenministeriums Stimmen, die jegliche Zusammenarbeit ablehnen. Das Mandat der Kommission sei zu vage, Grenzen und Vollmachten müssten vorerst abgesteckt werden, wird argumentiert. So müsse zum Beispiel die Frage geklärt werden, ob der zu untersuchende Zeitraum mit Sharons Spaziergang auf dem Tempelberg beginne oder schon einige Tage früher, als sich erste Anzeichen einer Gewaltwelle manifestierten.