Süddeutsche Zeitung, 5.12.2000

Kurz vor dem Gipfeltreffen der Europäischen Union

Durchbruch bei EU-Reform bleibt aus

Außenminister vor allem uneins über Stimmengewichtung im Ministerrat / Kompromiss in der Türkei-Frage erreicht / Von Andreas Oldag

Brüssel - Unmittelbar vor Beginn des EU-Gipfeltreffens in Nizza gibt es weiterhin Uneinigkeit über die Reform der Europäischen Union. Bundesaußenminister Joschka Fischer hat sich für eine umfassende Lösung in der Frage der künftigen Stimmengewichtung im Ministerrat ausgesprochen. Die Interessen kleiner und großer Mitgliedsstaaten müssten "unter einen Hut gebracht werden, forderte der Minister am Rande eines Treffens der EU-Außenminister am Montag in Brüssel. Es war die letzte Zusammenkunft der Ressortchefs vor der EU-Gipfelkonferenz, die am Donnerstag in Nizza beginnt. Im Streit um die Partnerschaft mit dem EU-Beitrittskandidaten Türkei einigten sich die Minister auf eine Kompromissformel. Das Konfliktthema Zypern solle in den politischen Dialog mit Ankara aufgenommen werden, hieß es in Brüssel. Griechenland hatte vor zwei Wochen die Beitrittspartnerschaft der Türkei in Frage gestellt. Die EU führt derzeit nur mit dem griechischen Teil Zyperns Beitrittsverhandlungen.

Mit der Reform ihrer Entscheidungsstrukturen will sich die Union für die geplante Ost-Erweiterung fit machen. Ein Hauptstreitpunkt ist die Stimmengewichtung im Ministerrat. Frankreich lehnt es ab, dass das um 23 Millionen Menschen bevölkerungsreichere Deutschland mehr Stimmen im Rat erhält. Nach den Worten des französischen Außenministers Hubert Védrine könne diese Frage nur von den Staats- und Regierungschefs in Nizza gelöst werden. Védrine räumte ein, dass auch bei den Fragen der künftigen Größe und Zusammensetzung der Kommission sowie bei der Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen noch "schwierige Probleme" zu überwinden seien.

Nach einem neuen Kompromissvorschlag soll die Kommission Schritt für Schritt umgebaut werden. Bis zum Ende der Amtszeit des derzeitigen Kommissions-Präsidenten Romano Prodi im Jahr 2005 soll die EU-Spitze weiterhin 20 Kommissare haben. Vom Jahr 2005 an könnte es dann für jeden Mitgliedsstaat nur noch einen Kommissar geben. Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien sollen auf ihren zweiten Mann beziehungsweise ihre zweite Frau in Brüssel verzichten. Damit würde Platz für die erste Runde der neuen Mitgliedsstaaten geschaffen, die auch jeweils einen Kommissar nach Brüssel schicken dürfen. Erst vom Jahr 2010 an soll ein Rotationssystem für die Besetzung der Kommissars-Posten eingeführt werden. Das heißt: Nicht alle Mitgliedsstaaten wären gleichzeitig in der EU-Spitze vertreten.

Hinsichtlich der Frage der Ausdehnung der Mehrheitsentscheidungen kommen die Verhandlungen nach Meinung von EU-Diplomaten nur schleppend voran. Die französische EU-Ratspräsidentschaft hat ein Arbeitspapier vorgelegt, wonach von 70 Vertragsartikeln theoretisch 48 in die qualifizierte Mehrheit überführt werden können. Nach den Worten von Außenminister Fischer gehört Deutschland zu den Ländern, die bei der Aufhebung der Einstimmigkeit mit am weitesten gehen wollen.

EU-Diplomaten wiesen jedoch am Montag in Brüssel darauf hin, dass jeder Mitgliedsstaat sein "spezielles Hobby" pflege und in bestimmten Bereichen auf seinem Vetorecht beharre. Das gilt für Deutschland insbesondere im Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik. Frankreich will dagegen beim Handel mit Dienstleistungen nicht auf die Einstimmigkeit verzichten.

Die französische EU-Ratspräsidentschaft hat am vergangenen Wochenende ein "Synthesedokument" vorgelegt, das als Grundlage für die Verhandlungen der Außenminister diente. Wie es aus deutschen Delegationskreisen hieß, seien in dem Arbeitspapier jedoch nur die verschiedenen Optionen nebeneinander gestellt. "Die eigentliche Arbeit beginnt in Nizza", hieß es in Brüssel.