Frankfurter Rundschau, 5.12.2000

Hungerstreik in türkischen Gefängnissen weitet sich aus

Häftlinge protestieren gegen geplante Verlegung in neue Hochsicherheitsgebäude / 205 Menschen nehmen an "Todesfasten" teil

Von Gerd Höhler

Sechseinhalb Wochen nach dem Beginn der Hungerstreiks in türkischen Gefängnissen zeichnet sich noch keine Lösung ab. Während das Kabinett in Ankara jetzt beschloss, Häftlinge, die sich in Lebensgefahr befinden, in Krankenhäuser einzuliefern und zwangsweise zu ernähren, schlossen sich weitere Gefangene dem Protest an.

ATHEN, 4. Dezember. Mit den Protesten versuchen die Häftlinge, sich gegen eine Verlegung in neue Hochsicherheitsgefängnisse zu wehren. Der Zustand vieler Gefangener, die seit nun bereits 46 Tagen nur noch Flüssigkeit zu sich nehmen, ist offenbar kritisch. Nach Angaben von Anwälten und Angehörigen leiden sie unter Magen- und Muskelkrämpfen sowie starken Kopfschmerzen. Mehr als 800 Gefangene in 18 Haftanstalten nehmen nur noch gezuckertes und gesalzenes Wasser sowie Vitamintabletten zu sich. 205 von ihnen haben nach Medienangaben vom Montag inzwischen ein "Todesfasten" begonnen. Sie trinken lediglich Wasser, ohne jeden Zusatz. Die beteiligten Häftlinge gehören zu linksextremen Untergrundorganisationen wie der Revolutionären Volksbefreiungsfront DHKP/C, der verbotenen Kommunistischen Partei und der ebenfalls illegalen Kommunistischen Arbeiterpartei TKIP. Nach Darstellung der Regierung hungern die Gefangenen auf Weisung ihrer Organisationen. Hasan Köse, Anwalt der protestierenden Häftlinge im Gefängnis von Aydin, weist das entschieden zurück. Es handele sich um freiwillige Aktionen.

Bisher sind die Gefangenen in großen Sälen mit bis zu 100 Mithäftlingen untergebracht. Die Aufseher haben kaum eine Kontrolle über die Vorgänge in diesen Gemeinschaftszellen. Mobiltelefone, Schusswaffen und Messer gibt es Berichten zufolge fast überall. Immer wieder gibt es Meutereien und blutige Auseinandersetzungen rivalisierender Gruppen.

Mehr Kontrolle, aber zugleich einen humaneren Strafvollzug sollen laut Regierung die neuen Hochsicherheitsgefängnissen des "Typs F" bringen. Sie haben Zellen für ein bis drei Gefangene. Dort gibt es Bäder, Kochecken und Tageslicht. Justizminister Hikmet Sami Türk vergleicht sie mit "komfortablen Hotelzimmern". Die protestierenden Gefangenen dagegen sprechen von "Särgen". Sie befürchten, dass ihre Absonderung in den Einzelzellen Isolation und Folter Vorschub leisten werde.

Unbegründet ist die Furcht vor Misshandlungen nicht, wie die bisherigen Erfahrungen in den türkischen Gefängnissen zeigen. Baulich mögen die sechs fertigen und fünf im Bau befindlichen Anstalten des Typs F den Vorgaben der UN und des Europarats für einen humanen Strafvollzug entsprechen. Es gibt Bibliotheken, geräumige Innenhöfe und Sporträume. Das Vollzugspersonal sei speziell geschult, versichert Justizminister Türk. Aber wie der Strafvollzug in der Praxis aussehen wird, ist eine andere Frage. In den neuen Zellen-Gefängnissen seien die Häftlinge "der Willkür der Wärter ausgeliefert", fürchtet der Anwalt Kamil Karatas. Die Regierung dagegen argumentiert, Organisationen wie die militante DHKP/C wollten an dem bisherigen Strafvollzug festhalten, weil die Unterbringung in den Sälen die ideologische Indoktrinierung ihrer inhaftierten Genossen erleichtere und den Gruppendruck aufrecht erhalte.

Ob nun aus freiem Willen oder auf Druck ihrer Organisationen, die Häftlinge scheinen entschlossen, ihren Protest bis zur letzten Konsequenz fortzuführen. Bereits im Jahr 1996 starben während eines ähnlich motivierten Hungerstreiks in türkischen Gefängnissen zwölf Häftlinge.

Inzwischen gibt es Solidaritäts-Hungerstreiks mehrerer türkischer Häftlinge in europäischen Gefängnissen, darunter in den Niederlanden, in Frankreich und in mindestens vier bundesdeutschen Vollzugsanstalten.