Neue Zürcher Zeitung (CH), 5.12.2000

Europas Eiertanz um die Zuwanderung

Das Dilemma des grenzenlosen Nationalstaats

In Westeuropa ist eine Debatte um Zuwanderung und Integration in Gang gekommen. Vor allem wirtschaftliche Gründe scheinen eine Abkehr von der Null-Zuwanderungs- Politik der letzten Jahrzehnte zu erzwingen. Wo staatliche Ansätze zu kurz greifen, dringt die EU-Kommission auf die Entwicklung einer gemeinsamen Politik. cme. Nicht nur in Hafenstädten wie Hamburg oder Dover erinnert man sich noch an den Höhepunkt der europäischen Auswanderungswelle.Zwischen 1820 und 1924 kehrten rund 50 Millionen Bürger der überforderten Alten Welt denRücken und trugen mit ihrer Dynamik massgeblich zum Aufstieg der Neuen Welt bei. Heute erlebt Europa einen verzerrten Rollentausch. Seitdem Ende des Kalten Krieges ist die Netto-Zuwanderung nach Europa angestiegen. Sie lag 1999 bei rund 700 000 Migranten. Gleichzeitig klagen immer mehr europäische Staaten über Löcher in der Rentenkasse durch Überalterung und den Mangel an Arbeitskräften in verschiedenen Wirtschaftssektoren. Viele Regierungen in Europa lavieren nun im Spannungsfeld zwischen dem Wettbewerb um neue Arbeitskräfte, Fremdenangst und staatlicher Souveränität.

Das Tabu der Einwanderung
Noch im letzten Jahr schien eine Einwanderungsdebatte in den meisten EU-Staaten unmöglich. Die hohen Arbeitslosenzahlen und die Angstvor rechtsextremen Parteien machten Zuwanderung in vielen EU-Staaten zum Tabu. In Frankreich erregte die Kontroverse um die irregulären Migranten die Gemüter. Die Koalitionsregierung in Deutschland verlor Stimmen auf Landesebene wegen einer Unterschriftenaktion gegen ihr Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft, während die Labourregierung in Grossbritannien von einer Oppositionskampagne gegen Asylmissbrauch in arge Verlegenheit gebracht wurde. Heute bleibt die Zuwanderung zwar ein heikles Thema, doch hat in vielen Ländern Westeuropas eine offene Debatte um die Immigrations- und Asylpolitik eingesetzt. Im September lehnten zwei Drittel der Schweizer Wähler eine Initiative ab, die den Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung von rund 20 auf 18 Prozent reduzieren wollte.

Dahinter stehen vor allem wirtschaftliche Gründe. Es stellt sich die Frage, wie die Rentensysteme angesichts der absinkenden Geburtenrateund steigender Lebenserwartung ohne Zuwanderung finanziert werden sollen. Anfang des Jahresprognostizierte ein Bericht der Vereinten Nationen, dass sich die Zahl der Zuwanderer verdoppeln müsse, um die jetzige Grösse der arbeitenden Bevölkerung zu sichern. Um das Verhältniszwischen Pensionierten und Arbeitenden konstant zu halten, sei sogar eine Vervielfachung notwendig. Ohne eine Erhöhung der Zuwanderung würden im Jahr 2050 zwei Arbeitnehmer in der EU für einen Rentner aufkommen müssen (gegenwärtig sind es 4,3 Arbeitende). Der Bericht erregte besonders in Ländern mit niedrigen Geburtenraten wie Spanien, Italien und Deutschland grosse Aufmerksamkeit.

Aber auch Staaten ohne Nachwuchsproblem und mit einem gesunden Rentensystem wie Grossbritannien debattieren eine verstärkte Zuwanderung, um Notstände in den Spitälern, Schulen und in der Landwirtschaft zu beseitigen. Zudem haben eine Reihe von Studien belegt, dass Migranten eher Arbeitsplätze schaffen, als dass sie in direkte Konkurrenz mit einheimischen Arbeitssuchenden treten. Diese Neubewertung wird auch deutlich in der Debatte um fehlende Arbeitskräfte in der Informationstechnologie. Innerhalb weniger Monate wandelten sich so die Wirtschaftsmigranten vom schwarzen Peter zur Trumpfkarte im globalen Standortwettbewerb.

Da es in den meisten EU-Staaten an einer Einwanderungspolitik fehlt, sind viele Arbeitsmigranten gezwungen, einen Asylantrag zu stellen. Dies führt zu langen Verfahren und einer niedrigen Anerkennungsquote. Gleichzeitig erschweren die Arbeitsverbote eine gesellschaftliche Eingliederung und volkswirtschaftlich sinnvolle Beschäftigung der Migranten. Mit der restriktiveren Handhabung der Asylverfahren treten die Problemeillegaler Zuwanderung in den Vordergrund. Stärkere Grenzkontrollen allein können das Problemnicht lösen. Sie erhöhen hingegen die Abhängigkeit der Migranten von Menschenhändlern und skrupellosen Arbeitgebern. Um Polizeikontrollen in der Strasse von Gibraltar oder in der Adria zu entgehen, werfen viele Schlepper Flüchtlinge kurzerhand über Bord. In Dover starben vor wenigenMonaten 58 Chinesen in einem luftdichten Container. Trotz den Kontrollen gelangen nach Schätzungen von Europol jährlich etwa 500 000 Personen illegal in die EU, grösstenteils verrichten sie Schwarzarbeit. Die Illegalität führt unweigerlich zu sozialer wie rechtlicher Ausgrenzung und begünstigt die Entstehung von Kriminalität und ethnischer Abkapselung. Besonders an den südlichen Grenzen der EU, wie in Spanien und Italien, wachsen die Befürchtungen über ungesteuerte Einwanderung aus muslimischen Staaten. Als Reaktion auf die innenpolitischen Probleme illegaler Einwanderung haben Staaten wie Frankreich und Belgien Initiativen gestartet, einen Teil der illegal Eingewanderten, beispielsweise solche mit festem Arbeitsplatz, nachträglich anzuerkennen. Auf diesem Weg sind nach EU-Schätzungen seither 1,8 Millionen Migranten eingegliedert worden.

Bankrott der Null-Immigration
Doch diese Ad-hoc-Massnahmen können nicht verbergen, dass den EU-Mitgliedstaaten eine durchdachte und abgestimmte Asyl- und Immigrationspolitik fehlt. Die EU-Kommission erklärte kürzlich in zwei Mitteilungen, dass dierestriktive Politik der Null-Immigration der letzten 30 Jahre gescheitert sei. Sie leiste der illegalenEinwanderung Vorschub, erschwere die praktische Durchsetzung des von der Genfer Konvention garantierten Rechts auf Asyls und erschwereeine durchdachte Steuerung erwünschter Zuwanderung. Diese könne nämlich nicht nur für die EU, sondern auch für die Herkunftsländer der Migranten durchaus von Vorteil sein. Allerdings erschwerten starre Bestimmungen die zeitweilige Rückkehr von Migranten in ihre Heimatländer und damit unternehmerische Aktivität und Know- how-Transfer. Statt der Null-Immigration sollten die EU-Staaten Arbeitsmigranten Möglichkeiten der legalen Einwanderung eröffnen und sich auf minimale Standards etwa bei der Anerkennung von Asylanträgen oder bei der Familienzusammenführung einigen.

Aussenpolitisch müsse die EU stärker mit Transit- und Herkunftsländern zusammenarbeiten, um den sogenannten Push-Faktoren vonImmigration, wie etwa Kriegen oder wirtschaftliche Krisen, wirksam entgegenzuwirken. In der Tat ist Migration zu einem globalen Phänomen geworden, das sich immer weniger an die Gesetze geographischer Nachbarschaft hält. Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration leben weltweit 150 Millionen Personen längerfristig ausserhalb ihres Herkunftslandes.

Brüsseler Einmischung
In den Augen mancher nationaler Politiker hat sich die EU-Kommission mit ihrer Initiative zu weit aus dem Fenster gelehnt. Zwar hatte der Europäische Rat von Tampere 1999 die EU- Kommission mit der Entwicklung einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik beauftragt. Dass aber António Vitorino, der EU-Kommissar für Justiz- und Innenpolitik, derart beherzt ans Werk geht, wird beispielsweise in der deutschen CDU mit Unbehagen registriert. In ihrer Mitteilung zur Zuwanderungspolitik wagt sich die EU-Kommission bewusst auf innenpolitisches Terrain, wennsie Politiker mahnt, «auf die Vorzüge der Einwanderung und der kulturellen Vielfalt hinzuweisen», sowie «einen Sprachgebrauch zu vermeiden, der rassistischen Tendenzen Auftrieb geben (. . .) könnte». Zwar betont auch die Kommission die Notwendigkeit von grundlegenden Prinzipien und Werten, wirbt aber in einer Akzentverschiebung vom deutschen «Leitkultur»-Gedanken füreinen zweiseitigen Integrationsprozess, «der sowohl von den Einwanderern als auch von der Aufnahmegesellschaft Anpassung verlangt».

So treibt die Debatte um die Zuwanderungspolitik auch die schleichende Identitätskrise des Nationalstaats auf die Spitze. Es stellt sich die Frage nach der Selbstdefinition der nationalen Gesellschaften angesichts verstärkter Mobilität von Arbeitskräften unterschiedlicher Herkunft im grenzenlosen EU-Binnenmarkt. Wie lässt sich die Wertschätzung von kultureller Vielfalt mit der Bewahrung gesellschaftlichen Zusammenhalts in Einklang bringen? Nach welchen Kriterien - Sprache, Religion oder Bürgerwerte - bemisst sich die Zugehörigkeit einer Person zu einem Gemeinwesen? Was bleibt vom Dogma staatlicherSouveränität, wenn die Kompetenz für Zuwanderungspolitik zumindest teilweise auf die EU- Ebene verlagert werden muss? Der Gipfel von Nizza könnte bereits erste Aufschlüsse über die Bewertung dieser Fragen auf der Regierungsebene geben. Ohne die Ausdehnung des Mehrheitsentscheids dürfte die Ausarbeitung einer gemeinsamen Asyl- und Zuwanderungspolitik kaum zu realisieren sein.