DER STANDARD (A), 4.10.2000

Flucht nach Österreich

1982: Ein Iraner

Anonymes Protokoll einer Desillusionierung

Wir Perser lieben unsere Gedichte: "Woher komme ich? Warum bin ich gekommen? Wohin gehe ich? Du wirst mir nie meine Heimat zeigen." Die Revolution im Iran war ein Fluss mit vielen Fischen drin, vom Zufall hineinplatziert.

In den ersten beiden Jahren nach der Vertreibung des Schahs gab es große Freiheit - und ein Vakuum. Für die Menschen meines Alters war beides sehr verführerisch. Wir Linken wollten viel Gutes tun, aber wir wussten nicht, wie. Es war eine Träumerbewegung. Unsere Ideen waren im Iran nicht autochthon. Was ist das für ein Sozialismus, den die 50 Prozent Analphabeten im Land nicht verstehen?

Richtige Ideen im falschen Moment können vernichtend wirken. Die Linken haben eine Flamme gezündet und nicht gewusst, wofür. Sie haben viele junge Menschen begeistert, und heute ist die Hälfte tot und die Hälfte nicht mehr im Iran. Man kann nicht 1300 Jahre islamische Tradition einfach auslöschen, das haben wir nicht verstanden. Man muss akzeptieren, dass die Mullahs einen volksnäheren Weg gefunden haben. Man kann nicht einfach sagen, wir hatten Pech, dass die gewonnen haben.

Mir haben sie meine Heimat geraubt. Ich habe viele traurige Erinnerungen, aber es ist nicht produktiv, davon zu erzählen. Die einzige Hoffnung für den Iran ist eine Generation, die mehr lachen kann als meine. Das Bild, wie ich mit 20 Jahren zum letzten Mal den Iran gesehen habe, geht aus meinem Kopf nie mehr weg. Es war am Fuß des Ararat; wir sind mit Pferden hinüber in die Türkei. Teheran ist groß, laut, emotionell. In Wien war es ruhig; die erste Zeit ist es mir wie eine tote Stadt vorgekommen. Jedes Jahr kommt in mir ein paar Wochen das Gefühl hoch, dass ich den Iran wiedersehen möchte. Je älter ich werde, desto größer wird die Sehnsucht. Damit ich das nicht ganz vergessen muss, will ich anonym bleiben.

Aber dann fahre ich doch nie: Überall, wo die Religion regiert, ist es eine düstere Gegend. Was ich in Österreich wirklich hatte, ist Zeit: 18 Jahre Zeit zum Nachdenken. Mich beschäftigt die Schuldfrage: Wenn man Schmerzen hat, ist es leicht, jemanden verantwortlich zu machen. Viel später stellt man sich die Frage: Warum hat er mir wehgetan? War wirklich ich sein Feind?

Heute glaube ich, dass es eine globale Schuld ist. Der Westen nimmt die Resultate des Kolonialismus als gegeben, mit einem Achselzucken. In der Region, aus der ich komme, ist der Tod eine Gewohnheit. Bevor man dort mit Politik beginnt, muss man den Tod ins Exil schicken.

Aufgezeichnet von Robert Schlesinger