Sonntagszeitung (CH), 3.12.2000

Deutsche Polizei unter Beschuss: Auf dem rechten Auge blind

Die Verwirrung um den «Kindermord» in Sebnitz löste eine landesweite Debatte aus

Berlin - Die Vorwürfe kommen von ganz oben: «Die deutsche Polizei hat Schwierigkeiten im Umgang mit dem Rechtsextremismus.» Der Kritiker ist kein linker Sponti, der schon immer dachte, der deutsche Staat sei auf dem rechten Auge blind. Es ist Ulrich Kersten, Deutschlands höchster Polizeibeamter, Präsident des Bundeskriminalamts. Seine Worte sind gut überlegt, die Rede ist lange vorbereitet. Kersten hält sie in Wiesbaden, am 23. November. Das ist der Tag, an dem 500 Kilometer entfernt, in Sebnitz, gerade drei junge Leute wegen Mordverdachts hinter Gittern sitzen. Sie werden verdächtigt, einen kleinen Jungen aus fremdenfeindlichen Motiven ermordet zu haben.

Heute hätten die Kerzen leuchten sollen in Sebnitz, an Deutschlands Ostgrenze. Aus Trauer über den Tod des kleinen Joseph vor mehr als drei Jahren, der jetzt eine Woche lang die Deutschen entsetzt und aufgewühlt hat. Aber die Lichterkette ist abgesagt. Sebnitz ist kein Ort für stilles Gedenken, eher schon für Wut oder für Trotz. Also gibt es nun ein Spendenkonto. Denn die Stadt hat Schaden genommen, sagen die Sebnitzer, moralisch und wirtschaftlich.

Wo kein Verbrechen geschehen ist, kann auch niemand weggeschaut haben - kein Mord, keine Mitschuld. Aufatmen. Ein ganzer Ort sei von den Medien vorverurteilt worden, klagt Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU). «Öffentlich hingerichtet» diktiert er den Reportern ins Stammbuch. Aber Biedenkopf hat ein kurzes Gedächtnis. Kürzlich noch legte er «Wert auf die Feststellung», dass die sächsische Staatsanwaltschaft die drei Tatverdächtigen ganz ohne öffentliches Zutun hinter Gitter gebracht hatte. Noch bevor eine einzige Zeile über den Fall in der Zeitung stand. Auch die Ermittler also glaubten das Unglaubliche: Joseph Abdullah, der Sohn deutsch-irakischer Eltern, sei im Schwimmbad ermordet worden, womöglich sogar von Neonazis.

Ein sarkastischer Kommentator meinte am Freitag im ZDF, die ganze Aufregung habe auch ihr Gutes. Niemand rede mehr über die Sebnitzer Neonazis. Womöglich gebe es sie gar nicht mehr.

Tatsächlich macht sich Selbstgerechtigkeit breit. Auch Polizei und Staatsanwaltschaft wollen nicht daran erinnert werden, wie schlampig sie damals, nach dem Tod des Kindes, gearbeitet haben. Etwaige Spuren ins rechtsextreme Milieu wurden seinerzeit schon gar nicht verfolgt. Zu Recht? Weil es doch, wie wir heute wissen, mit grosser Wahrscheinlichkeit kein Mord von Neonazis war? Nein, zu Unrecht. Weil ein solcher Tathintergrund zumindest nicht hätte ausgeschlossen werden dürfen.

Zum Glück gibt es Männer wie Frank Jansen. Das ist ein ebenso penibler wie unaufgeregter Reporter des Berliner «Tagesspiegels». In wochenlanger Kleinarbeit hat er die offiziellen Statistiken über Gewaltverbrechen mit ausländerfeindlichem, antisemitischem oder sonst rechtsextremem Hintergrund überprüft und mit der Wirklichkeit verglichen. Jansens Ergebnis: Diese Statistiken sind geschönt. Während das Bundesinnenministerium davon spricht, seit der deutschen Einheit seien 36 Menschen durch rechtsextreme Gewalttäter zu Tode gekommen, zählt Jansen 93. Und niemand wagt diese Zahl ernsthaft zu bezweifeln.

Im Gegenteil. Der Präsident des Bundeskriminalamts hat nun zugegeben und beklagt, dass es «im System der Erfassung rechter Straftaten» ernsthafte Defizite gibt. Sein Stellvertreter Bernhard Falk wurde dieser Tage noch deutlicher: «Das Datenmaterial über rechte Straftaten ist kaum zu gebrauchen.» Und nicht nur das. BKA-Präsident Kersten sieht auf Seiten der Polizei auch einen «dringenden Handlungsbedarf» bei der Repression. Im Klartext heisst das: Deutschlands Polizisten haben die Rechtsextremen nicht annähernd im Griff.

Viele Beispiele zeigen, dass die Polizei gegen Neonazis nicht durchgreift

Zum Beispiel in Brandenburg. In der Ortschaft Wriezen jagten in diesem Frühjahr Neonazis «linke» Jugendliche durchs Dorf. Eines der Opfer wurde mit einem Baseballschläger lebensgefährlich verletzt. Die Polizei wusste frühzeitig von dieser Hetzjagd, griff aber nicht ein. Oder als andernorts 20 Skinheads ein Haus belagerten und die verängstigte Familie in ihrer Not die Polizei anrief, fragte der Mann von der Notrufzentrale, warum sie denn die Neonazis nicht einlassen wollten. Es gibt lange Listen mit ähnlichen Begebenheiten. Und es gibt den strammen Brandenburger Innenminister Jörg Schönbohm (CDU), der sich vor zehn Tagen öffentlich darüber erboste, dass die evangelische Kirche in der Ausländer- und Asylpolitik immer häufiger Partei gegen ihn ergreift. Sein Pressesprecher setzte noch einen drauf und sprach davon, dass Asylanten in Deutschland «über Jahre vom Steuerzahler durchgefüttert» würden. Solche Politiker-Sätze sind nicht nur Wasser auf die Mühlen der Neonazis, sie sind Öl in ihr Feuer.

Und in Sebnitz stört heute keine Lichterkette den Frieden der Vorweihnachtszeit. Werner Thies