junge Welt, 02.12.2000

Armut macht krank

In Berlin begann am Freitag ein Kongreß zu sozialer Ausgrenzung.

Von Rainer Balcerowiak

Arme Menschen haben in nahezu jeder Lebenssituation ein mindestens doppelt so hohes Risiko, schwer zu erkranken, zu sterben, einen Unfall zu erleiden oder von Gewalt betroffen zu sein. Ausgehend von dieser Grundthese widmet sich an diesem Wochenende ein Kongreß in Berlin dem Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit.

Veranstalter ist der Verein Gesundheit Berlin e.V. - ein Zusammenschluß verschiedener Institutionen des öffentlichen Gesundheitsdienstes sowie mit der Thematik befaßter Wissenschaftler und Praktiker. 140 Referenten und über eintausend Teilnehmer wollen sich in verschiedenen Arbeitsgruppen und Veranstaltungen mit dem Thema auseinandersetzen.

Zu den Schwerpunkten gehört die soziale Situation von Migranten und wohnungslosen Menschen in Deutschland. Die von dem Arzt und Sozialpädagogen Gerhard Trabert vorgelegten Zahlen belegen die dramatische Situation der nach Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Obdachlosigkeit 550 000 Wohnungslosen. 80 bis 90 Prozent bedürften dringend einer medizinischen Behandlung, 70 Prozent leiden dauerhaft an ernsthaften Krankheiten. Auf die besondere Lebenssituation dieser Menschen würden die öffentlichen Gesundheitsverwaltungen meistens mit Ignoranz und Desinteresse reagieren, so Trabert, der den Aufbau einer »Medical-Streetwork«-Struktur fordert. Dies müsse beinhalten, daß jeder hilfsbedürftige Mensch ohne bürokratische Hemmnisse medizinische Hilfe in vollem Umfang in Anspruch nehmen kann.

Eine weitere stark betroffene Gruppe sind Migranten. Nicht nur die nach Schätzung der Wohlfahrtsverbände 500 000 illegal hier lebenden Nichtdeutschen sind davon betroffen: Auch bei Asylbewerbern und Flüchtlingen mit vorübergehender Duldung ist die medizinische Versorgung auf die Akutbehandlung schwerer Erkrankungen reduziert worden.

Dabei erhöhen gerade die Lebensbedingungen in der Illegalität das Risiko von Erkrankungen. Als Beispiele dafür wurden auf der Eröffnungspressekonferenz des Kongresses am Freitag außer dem enormen psychischen Druck gesundheitsschädliche Arbeiten, mangelhafte Ernährung, Leben auf engstem Raum und fehlende Heizmöglichkeiten benannt. Für diese Patienten muß ein unkompliziertes niedrigschwelliges Gesundheitssystem bereitgestellt werden, in dem die Gefahr von Denunziation und Abschiebung ausgeschlossen ist, forderte der Medizinsoziologe Ramazan Salman vom Ethno-Medizinischen Zentrum in Hannover und verwies auf das Beispiel Italiens, wo entsprechende gesetzliche Regelungen geschaffen worden seien.

Der Kongreß will sich besonders mit den Möglichkeiten der Vernetzung der verschiedenen Initiativen und Projekte beschäftigen. Angesichts der dramatisch wachsenden Verarmung großer Bevölkerungsteile in den ehemals sozialistichen Staaten Osteuropas und einer zu erwartenden riesigen Migrationswelle in die »reichen« Staaten des Kontinents forderte Trabert eine »Globalisierung der Armutsbekämpfung«. In Kürze wird auch ein europäischer Kongreß mit dem Thema Armut und Gesundheit in Paris stattfinden.

Ilona Kickbusch von der Yale-University in den USA forderte die Regierungen auf, sich auf eine massenhafte Armutsmigration einzustellen. Es sei illusorisch zu glauben, sich auf Dauer mittels Abschottung und Repression von der katastrophalen Armutsentwicklung in großen Teilen der Welt fernhalten zu können. »Sie werden kommen, und wenn nicht legal, dann eben illegal«, so Kickbusch.