Badische Zeitung, 1.12.2000

Häftlinge wollen sich zu Tode hungern

In der Türkei dauert der Protest gegen Einzelzellen 42 Tage an / Regierung will Zwangsernährung

ISTANBUL. Einhundert von mehr als 800 Häftlingen in 18 Gefängnissen in der Türkei verweigern seit 42 Tagen jede Nahrungsaufnahme. Damit ist eine Phase erreicht, die bei den so genannten "Todesfastern" irreversible Schäden hinterlassen wird. "Jeden Tag kann nun einer der Hungerstreikenden sterben", sagte ein Vertreter der Ärztekammer in Izmir." Eine ärztliche Versorgung lehnen sie dennoch vehement ab.

Justizminister Hikmet Sami Türk kündigte an, dass der Staat notfalls eine Zwangsernährung durchführen lassen werde. "Wir werden niemandem erlauben zu sterben." Trotz der akuten Todesgefahr für mehrere Hungerstreikende deutet sich bislang kein Kompromiss zwischen den Gefangenen und dem Justizministerium an. Die Hauptforderung der Gefangenen ist, nicht in so genannte F-Typ-Gefängnisse verlegt zu werden, die zurzeit gebaut werden.

Der Hintergrund ist eine umfassende Gefängnisreform, die zum Ziel hat, die heute üblichen Gefängnisse, in denen bis zu 100 Personen in Großraumzellen eingesperrt sind, durch Gefängnisse mit Einzelzellen oder Zellen für maximal vier bis sechs Häftlinge zu ersetzen. Die Hungerstreikenden, die alle Mitglieder linker Organisationen sind, wehren sich gegen die geplante "Isolationshaft" in den neuen Gefängnissen. Sie befürchten, dort der Willkür des Wachpersonals ausgeliefert zu sein. "F-Typ-Gefängnisse", sagt ein Vater eines der Hungerstreikenden, "bedeutet der Folter Tür und Tor zu öffnen."

Eine Gruppe von Intellektuellen, unter ihnen der Schriftsteller Orhan Pamuk oder der Liedermacher Zülfü Livanelli, versucht zurzeit, gemeinsam mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen, zwischen Justizministerium und Hungerstreikenden zu vermitteln. Bei einem Gespräch mit dem Justizminister wurde ihnen zugesichert, dass zunächst keine Verlegungen in das bereits fertig gestellte F-Typ-Gefängnis in Sincan bei Ankara durchgeführt werden. Außerdem werde eine Vorschrift im Antiterrorgesetz, die bei bestimmten Delikten eine Isolationshaft vorsieht, abgeschafft. Menschenrechtsorganisationen und Anwaltsvereinigungen wollen durchsetzen, dass in den neuen Gefängnissen neben den kleinen Zellen auch Gemeinschaftsräume zur Verfügung gestellt werden, Zellen tagsüber geöffnet sind.

Zum dritten Mal seit 1984 versuchen linke Organisationen in einer großen koordinierten Aktion in Gefängnissen, ihre Forderungen durchzusetzen. Beide vorangegangenen Aktionen endeten mit Toten: 1984 starben vier Gefangene, 1996 sogar zwölf. Kritiker des Hungerstreiks beklagen, dass die Entscheidung zum Todesfasten von den Spitzen der Organisationen gefällt wurde und sich kein Mitglied im Gefängnis dieser Entscheidung entziehen kann, ohne Gefahr zu laufen, als Verräter gebrandmarkt zu werden, was in den jetzigen Großraumzellen lebensgefährlich wäre.

Dem Staat geht es mit der Einführung der neuen Gefängnisse darum, den Einfluss der Organisationen in den Gefängnissen zu brechen. In türkischen Gefängnissen sind nicht nur die linken Gruppen organisiert, sondern auch faschistische Trupps und Mafiaorganisationen führen ein straff organisiertes Eigenleben.