junge Welt, 01.12.2000

»Exzessiv und unangemessen«

UNO-Kritik an israelischem Vorgehen gegen Palästinenser. Delegation besuchte besetzte Gebiete

Der jüngste Bericht der UNO-Menschenrechtsbeauftragten, Mary Robinson, über die Lage in Palästina gebraucht deutliche Worte. Auf 20 Seiten wird das Vorgehen der israelischen Armee (IDF) in den besetzten Gebieten scharf verurteilt und die israelische Regierung aufgefordert, internationale Beobachter in die Westbank und nach Gaza zu lassen und die israelischen Militäraktionen einzuschränken. Gegen den Vorschlag, ausländische Beobachter zur Kontrolle der Anwendung übermäßiger Gewalt durch die israelischen Sicherheitskräfte in den umkämpften Gebieten zuzulassen, hatte sich Israel mit Unterstützung Washingtons bisher stets erfolgreich gewehrt.

Der Robinson-Bericht wirft der israelischen Armee u.a. vor, zunehmend mit scharfer Munition in die demonstrierenden palästinensischen Menschenmassen zu schießen und mit Panzergranaten und Raketen auf zivile Ziele zu feuern. Wörtlich heißt es in dem Bericht: »Die Menschenrechtssituation in den besetzten Gebieten ist erschreckend. Die zivile Bevölkerung fühlt sich von einer viel stärkeren Macht besetzt, die bereit ist, ihre weit überlegene Feuerkraft gegen Demonstrationen und Steine werfende Jugendliche einzusetzen.« Deshalb - so der Bericht - hat »ein breites Spektrum von Beobachtern, einschließlich von offiziellen Vertretern der Vereinten Nationen« das militärische Vorgehen Israels gegen die Palästinenserunruhen in den letzten Wochen als »exzessiv und unangemessen« verurteilt.

In dem Bericht werden hauptsächlich die Ergebnisse des Besuchs von Mary Robinson vom 8. bis 16. November in der Region verarbeitet. Wegen des danach noch brutaleren Vorgehens der IDF dürfte der Robinson-Rapport jedoch noch vergleichsweise harmlos ausgefallen sein. Trotzdem zitierte am Dienstag die Washington Post den Sprecher der israelischen Botschaft in Washington, der den Robinson- Bericht als »einseitigen Versuch« verurteilte, »Israel für die Gewalttätigkeiten in den letzten Wochen verantwortlich zu machen und die Palästinenser aus der Verantwortung zu entlassen«.

Der Robinson-Bericht versucht auch, auf die dem jüngsten Konflikt zugrunde liegenden Motive einzugehen und kommt dabei zu dem Schluß, daß die Ursache für die anhaltenden palästinensischen Unruhen weniger im provokativen Besuch Scharons auf dem islamischen Heiligtum, dem Tempelberg in Jerusalem, zu finden sind als vielmehr in der »Vielzahl der alltäglichen rniedrigungen« durch Israel, die die Palästinenser über sich ergehen lassen müssen. Seit dem Ausbruch der Unruhen am 28. September sind über 280 Menschen getötet und an die 9 000 zum Teil schwer verwundet worden, fast ausschließlich Palästinenser. Der Bericht hält auch fest, daß sich außerordentlich viele Kinder unter den erschossenen Palästinensern befinden: 28 Prozent der Toten waren noch keine 16 Jahre alt. In einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Ha'aretz hatte letzte Woche ein Scharfschütze der IDF erklärt, daß sie von ihren Vorgesetzten grünes Licht hätten, Kinder zu erschießen, die älter als zwölf Jahre sind.

Mary Robinson gab ihrer besonderen Sorge über jüngste Meldungen Ausdruck, wonach israelische Soldaten mit Waffengewalt »Rettungswagen davon abhalten, verwundete Palästinenser zu versorgen«. Bei der Vorstellung ihrer Berichts erklärte Frau Robinson, daß sie während ihres Besuchs im Gazastreifen selbst Zeuge davon geworden war, wie israelische Soldaten zwei Rettungswagen daran gehindert hätten, den Verwundeten Nothilfe zu bringen. Erst vor wenigen Tagen gab es Berichte, daß israelische Soldaten eine Ambulanz mit schwer verwundeten Palästinensern so lange aufgehalten haben, bis diese verblutet waren. Der soeben erschienene Bericht der »Ärzte für Menschenrechte«, einer amerikanischen Ärztegruppe, die vor Ort versucht, den Verwundeten zu helfen, bestätigt dieses Vorgehen, das auch von Teilen der israelischen Presse verurteilt wird.

Die israelische Tageszeitung Haaretz Daily ging zu Wochenbeginn ausführlich auf den Bericht der Ärzte ein, der u.a. der israelischen Armee absichtliche Verzögerungen bei der Evakuierung verwundeter Palästinenser vorwirft, so daß die anschließende Behandlung der Verwundung im Hospital zusätzlich erschwert wird. Außerdem würden israelische Soldaten immer wieder sowohl verwundete Palästinenser als auch die Sanitäter, die sie bergen wollten, unter Feuer nehmen.

Rainer Rupp