Neue Zürcher Zeitung (CH), 1.12.2000

Breitseite Khatamis gegen die iranische Justiz

«Der Präsident kann die Verfassung nicht schützen»

Irans Präsident Khatami hat nach sechs Monaten des Schweigens, während deren die Maulkorbaktion der Konservativen die Reformen zurückwarf, wieder die Initiative ergriffen. Er bezeichnete die Gerichtsverfahren gegen liberale Zeitungen als Verfassungsbruch und klagte, dem Präsidenten fehle die Macht zum Schutz des Grundgesetzes.

vk. Limassol, 30. November

Präsident Mohammed Khatami hat am letzten Sonntag ein Schwächebekenntnis als Haupt der iranischen Exekutive abgelegt, das im Kontrast zur formalen Bescheidenheit seine Stärke im Kampf gegen seine politischen Feinde, die Konservativen, begründen soll. Er räumte nämlich ineiner Konferenz über die Verfassung der Islamischen Republik ein, dass ihm die nötigen Machtmittel zum Schutz des Grundgesetzes - seine wichtigste Aufgabe und Bemühung überhaupt - weitgehend fehlen. Noch ungewöhnlicher war, dass er die Justiz als Beispiel für solche verfassungswidrigen Praktiken wählte; er nannte insbesondere die Gerichtsverfahren hinter verschlossenen Türen, ohne die zuständigen Geschworenen, zur Ahndung von sogenannten politischen und journalistischen Verbrechen. In solchen Verfahren wurden seit dem letzten April rund 30 reformerische Zeitungen geschlossen und ihre Verantwortlichen eingesperrt. Nach Khatami missachtet die Justiz dabei die Verfassungsbestimmungen, wonach jeder Iraner ein Recht auf politische und journalistische Aktivität sowie auf einen offenen und fairen Prozess hat.

Versteckte Forderungen an Khamenei

Das Haupt der Justizbehörde, der konservative Ayatollah Shahrudi, nahm die Vorhaltungen sofort auf und legte einen Gesetzesentwurf zur Bildung eines Sondergerichtshofes für Verfassungsverstösse vor. Shahrudi meinte auch, Khatami hätte es in der Hand, die nötigen Massnahmen zur Umsetzung des Grundgesetzes zu treffen. Die Verfassung dürfe nicht zum Spielball derPolitik verkommen. Doch Khatami zielt viel weiter als nur auf die Justiz. In seiner Rede lobte er ausdrücklich Revolutionsführer Khamenei für die Ratifikation eines Gesetzes, das die Machtbefugnisse des Präsidenten kläre, allerdings die nun angesprochenen Mängel nicht behebe. Damit fordert er vom Führer der Islamischen Republik nicht weniger als die Abtretung eines Teils der Privilegien.

Khatami, selbst ein Intellektueller, versteht seine Aufgabe im weitesten Sinn auch als Schutzpatron aller Journalisten und Politiker. Die Aufgabe dieser beiden Gruppen liegt, wie Khatamidarlegte, genau im kritischen Dialog mit den verschiedenen Machtzentren im Staat; für diese Kritik dürfe man sie nicht bestrafen, solange sie sich an die Spielregeln hielten. Und die verbindliche Regel für alle sei allein die Verfassung. Entsprechend forderte er auch, dass die gegen viele Journalisten erhobene Anklage des «politischen Verbrechens» und der «Destabilisierung des Staatssystems» gesetzlich zu definieren sei. Eine entsprechende Vorlage des reformerischen Parlaments ist bereits zweimal vom konservativen Wächterrat zurückgewiesen worden und liegt nun bei der Schlichtungsinstanz, dem Rat für das höhere Staatsinteresse.

Drohung mit weiteren Enthüllungen

Khatamis Bruder Mohammed-Reza, der Leiter der Musharakat-Partei und Mehrheitsführer im Parlament, steuerte den parteipolitischen Hintergrund zum Vorstoss des Präsidenten bei. Nach ihm hat Mohammed Khatami vor dreieinhalb Jahren die Präsidentschaft als Verfechter des Rechtsstaat überlegen gewonnen, und er wird am Ende seines Mandats im nächsten Mai erneut als Vorkämpfer für die Verfassung für seine Wiederwahl werben. Das Parlament hat nach Mohammed-Reza Khatami einen Bericht des Präsidentenüber die laufenden Verstösse erhalten und ist bereit, in Zusammenarbeit mit der Regierung die Hindernisse für die Umsetzung der Verfassung aus dem Weg zu räumen. Der Präsident selbst hat in seiner Rede vom Sonntag angekündigt, er werde am Ende seiner Amtszeit erschöpfend über seine Erfolge und Misserfolge im Kampf für den Rechtsstaat Auskunft geben.

All das sind scharfe Waffen im kommenden Wahlkampf, die Khatami demnach auch auf die anderen konservativen Machtzentren zu richten droht, welche sich als Hüter der Islamischen Revolution gebärden: der Wächterrat, die Führung der Revolutionswächter, die religiösen Stiftungen, die Hizbullah-Aktivisten und deren Verbündete unter den Basar-Händlern. Er hat sichnun ein halbes Jahr Zeit genommen, um ihr Vorgehen mit Hilfe der Justiz zu beobachten und die Schwachstellen aufzudecken. Zugleich gibt er ihnen mit seiner Warnsalve Gelegenheit, noch auf die Seite der Reformer zu wechseln, bevor er auf der ganzen Front das Feuer eröffnet.