Neue Zürcher Zeitung (CH), 1.12.2000

Streit um Kurden-Fernsehen in der Türkei

Uneinige Regierungskoalition in Ankara

Die überraschende Erklärung des türkischen Geheimdienstchefs, wonach eine staatlich kontrollierte Fernsehsendung in Kurdisch im Interesse der Türkei sei, hat in Ankaras Regierungskoalition den Streit über Konzessionen in der Kurdenfrage neu entfacht. Im Südosten der Türkei ist kurdisches Fernsehen allerdings schon längst eine Tatsache.

it. Istanbul, 30. November

Der Chef des türkischen Geheimdiensts (MIT) hat in einem äusserst selten vorkommenden öffentlichen Auftritt gegenüber der Presse unlängst seine Haltung in der innenpolitisch höchst brisanten Kurdenfrage dargelegt. Der MIT habe bisher die Hinrichtung des Kurdenführers Abdullah Öcalan verhindert, weil dies im Interesse der Türkei liege, erklärte, wie bereits kurz berichtet, der MIT-Chef Senkal Atasagun mit entwaffnender Offenheit den Redaktoren von vier ausgewählten türkischen Tageszeitungen. Sein Geheimdienst sei ferner davon überzeugt, dass ein von Ankara kontrollierter kurdischer Fernsehsender den Interessen des Landes diene, sagte er. Der zweitstärkste Mann im MIT, Mikdat Alpay, erläuterte, die Rebellion der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) sei nicht endgültig zerschlagen. Der Staat könne die Bürger des kurdischen Südostens nur dann für sich gewinnen, wenn er sich direkt an sie wende. Eine Kommunikation mit ihnen sei aber nur in Kurdisch möglich. Rund 60 Prozent aller Kurdinnen verstünden kein Türkisch; bei den kurdischen Männern liegt der Prozentsatz tiefer.

Ein alter Disput

Diese erstaunlichen Eingeständnisse der beiden Geheimdienstler erschütterten erwartungsgemäss die Partner der regierenden Dreiparteienkoalition. Bei den Erklärungen der MIT-Chefs handle es sich um persönliche Meinungen, die für die Regierung nicht bindend seien, sagte der Verteidigungsminister Cakmakoglu, ein Mitglied der rechtsextremen Nationalistischen Aktionspartei (MHP). Ganz im Gegensatz zu ihm erklärte der Regierungschef Ecevit, dass die Türkei aus den Beobachtungen ihres Geheimdienstes Nutzen ziehen sollte. Er habe die Erlaubnis für das ungewohnte Pressebriefing erteilt, fügte Ecevit hinzu.Ein alter Konflikt war damit wieder voll ausgebrochen. Der Streit war Anfang November obdem Lagebericht der EU-Kommission zur Beitrittskandidatin Türkei entbrannt. Die EU-Kommission hatte in jenem Bericht festgehalten, welche Reformen die Türkei auf ihrem Weg zum Beitritt bereits verwirklicht hat und welche sie nochumsetzen müsste. Unter den notwendigen Reformen wurde etwa die Entfernung rechtlicher Hindernisse genannt, um allen türkischen Staatsbürgern Radio- und TV-Sendungen in ihren Muttersprachen zu ermöglichen. Obwohl die EU-Kommission die Bezeichnungen Kurdisch oder Minderheit vorsichtig vermieden hatte, war allseits klar, dass damit die Zulassung von Radio- und TV-Sendungen in Kurdisch gemeint war.

Der Vorsitzende der konservativen Mutterlandspartei (Anap), Yilmaz, sagte ohne zuZögern, dass die Türkei diese Reform rasch umsetzen könnte. Den Kurden kulturelle Rechte einzuräumen, würde die Republik nicht schwächen, sondern stärken und der Türkei den Weg nach Europa ebnen, erklärten prominente Anap-Abgeordnete. Anap ist der kleinste Partner in der Dreiparteienkoalition. Die zweitstärkste Partei in derRegierung, die MHP, vertrat hingegen die Meinung, ein Eingeständnis von kulturellen Rechten spalte die Bevölkerung in ethnische Gruppen und gefährde die Einheit der Nation. Die MHP betrachtet Radiosendungen in Kurdisch als eineKonzession, die, ähnlich wie während der Auflösung des Osmanischen Reiches, der Türkei von aussen mit Zwang auferlegt würde. Der MHP- Vorsitzende und stellvertretende Regierungschef, Bahceli, lehnt selbst eine Debatte über den Vorschlag entschieden ab. Die Stimmung im Kabinett erhitzte sich deutlich, als der MHP-Staatsminister Cay die Befürworter der Reformen als Landesverräter bezeichnete. Der heftige Streit innerhalb der Koalition widerspiegelt das Dilemma, das seit einem Jahrzehnt bereits die Türkei in der EU- Frage spaltet. Gegen drei Viertel der türkischen Bevölkerung befürworten laut jüngsten Umfragen einen Anschluss an die EU. Nur der kleinste Teil der politischen Führung will aber die Regeln der EU hinsichtlich Menschenrecht, Minderheitenschutz und Machtbefugnis der Armee wirklich auch für die Türkei akzeptieren. Ein Grossteil der Staatsführung hält die von der EU geforderten Reformen für einen zu hohen Preis.

Kühlere Köpfe in Ankara betrachten den Streit im Kabinett ums kurdische Fernsehen aber als eine längst verlorene Schlacht. Kurdisches Fernsehen sei im Südosten des Landes faktisch legalisiert, sagte vor kurzem die Abgeordnete SemaPiskinsüt, die im Sommer im Auftrag des Parlaments Ermittlungen über Menschenrechtsverletzungen im Südosten geführt hatte. Die Satellitenantennen in der Region seien alle in eine Richtung eingestellt, erklärte sie. Sie wollte damit ausdrücken, dass auch in den kleinsten Dörfern überSatellit der PKK-nahe Sender Medya TV empfangen wird.

Ein kurdischer Nationalsender

Dieser kurdische Sender hatte im Mai 1995 unter dem Namen Med-TV seinen Betrieb in London aufgenommen. Neben Nachrichten und Musikprogrammen wurden Debatten über den Krieg im Südosten gesendet, daneben waren auch Frauen- und Kinderprogramme zu sehen. Die Kindersendungen waren bei kurdischen Emigranten in Westeuropa sehr beliebt, weil damit ihre Kinder ihr Kurdisch verbessern konnten. Med-TV wurde kurz nach der Festnahme Öcalans im April 1999 stillgelegt. Die dafür zuständige britische Staatsstelle hatte damals erklärt, der Sender werde als Plattform zum Aufruf von Gewalt missbraucht. Im Juli 1999 wurden die kurdischen Sendungen wiederaufgenommen, diesmal unter dem Namen Medya TV. Der Sender strahlt seither seine Programme aus einer italienischen Ortschaft während zwölf Stunden täglich aus. Jedermann im Südosten empfange das Fernsehen der PKK, versicherte der türkische Geheimdienstchef. Er verstehe nicht, warum der Staat der PKK ein solches Informationsmonopol überlasse.

Während in Ankara noch hitzig darüber debattiert wird, ob die staatliche Radio- und Fernsehgesellschaft Sendungen in Kurdisch erlauben sollte, werden die Bürger im Südosten der Türkei dank neuer Technologie mit kurdischen Sendungen überschwemmt. Die Kurden der Türkei können nicht nur Medya TV empfangen, sondern auch ein kurdisches Radio, das offenbar von einem Sender in Armenien ausgestrahlt wird. Weiter bestehen die Fernsehsender der nordirakischen Kurden, einer von ihnen bezeichnet sich als kurdischer Nationalsender. Laut den Angaben von dessen Chefredaktor soll ab nächster Woche das Sendegebiet auf die südliche Türkei erweitert werden. Der kurdische Nationalsender, er steht der Faktion des nordirakischen Kurdenführers Barzani nahe, strahlt aus Brüssel Programme in Kurdisch, Arabisch, Persisch und Türkisch aus.