Süddeutsche Zeitung, 30.11.2000

"Kosmetische Korrekturen"

Viele Palästinenser sehen trotz der angekündigten Neuwahlen in Israel kaum noch Chancen für den Frieden / Von Heiko Flottau

Die Ankündigung des israelischen Premiers Ehud Barak, sein politisches Glück in Neuwahlen zu suchen, wurde von den Palästinensern skeptisch aufgenommen - zumindest von denjenigen, die auch in der neunten Intifada-Woche weiter auf die Straße gehen. Längst haben sie das Vertrauen in Ehud Baraks Fähigkeit verloren, eine Lösung anzubieten, die ihren Vorstellungen nahe kommt. "Barak ist ein General, der in militärischen Kategorien denkt", lautet das resignierte Urteil. Nach Ansicht vieler würde es fast keinen Unterschied machen, wenn Barakdurch einen Mann der rechtskonservativen Likud-Partei abgelöst würde.

Anders mag es bei den palästinensischen Funktionären aussehen. Sie könnten ein Interesse daran haben, sich bis zu den Neuwahlen mit Barak zu einigen und so seine Chancen für eine Wiederwahl zu erhöhen. Denn bei einem endgültigen Scheitern des Friedensprozesses würden sie einiges verlieren - Privilegien, wie zum Beispiel VIP-Karten, die es ihnen ermöglichen, die Grenzen nach Israel zu passieren und Einkäufe in Tel Aviv zu erledigen. "Die palästinensischen Funktionäre haben die Intifada so nötig wie ein Loch im Kopf", sagen die Leute auf der Straße angesichts der Funktionärskaste, die in Gaza und Ramallah regiert und die neue Dienstwagen mit roten Nummernschildern besitzt.

Die palästinensische Gesellschaft ist zweigeteilt: Die Angehörigen der Sulta, wie das arabische Wort für die Palästinensische Selbstverwaltungsbehörde heißt, und Arafats Fatah-Leute verdienen gut und gelten bei ihren Landsleuten als korrupt. Sie sind am ehesten geneigt, mit Israel einen Kompromiss zu schließen - auch um den ihnen genehmen Status quo beizubehalten.

Ehud Baraks Chance, vor den nächsten Parlamentswahlen mit den Palästinensern eine Einigung zu erzielen, liegt in den Büros von Gaza und Ramallah - nicht aber auf der Straße. Die Menschen nämlich, die täglich demonstrieren, die seit acht Wochen nicht mehr in Israel zur Arbeit gehen können, und die seit Jahren auf die wirtschaftlichen Ergebnisse des Friedensprozesses warten, haben nicht mehr viel zu verlieren. Für die Steine werfenden Jugendlichen zählen nur noch Ergebnisse. Die Sulta in Gaza kann daher mit dem angeschlagenen Ehud Barak nicht beliebig verhandeln. Mehr denn je muss sie auf die Stimmung der Straße Rücksicht nehmen.

Die offizielle Stellungnahme zu Baraks Ankündigung von Neuwahlen stammt vom palästinensischen Kultur- und Informationsminister Jassir Abbed Rabbo: "Es ist nicht wichtig, ob diese Regierung im Amt bleibt oder eine neue Regierung kommt. Wichtig ist, dass sich die israelische Politik wandelt." Israel befinde sich in einer Krise und greife zu kosmetischen Korrekturen, um diese Krise zu bewältigen. "Wenn die Israelis ihre Haltung und ihre Politik nicht grundlegend ändern, werden sie zur nächsten Krise zurückkehren. Und jedes Mal wird die Krise größer sein als die vorhergehende", sagte Rabbo. Für die nächste Zeit erwartet der Minister eine Periode des politischen Frostes zwischen Israel und den Palästinensern. Jassir Abbed Rabbo ist ein Mann fester Prinzipien. Ursprünglich war er von Jassir Arafat beauftragt worden, jene Verhandlungen zu führen, in denen eine endgültige Lösung aller zwischen Israelis und Palästinensern bestehender Probleme gefunden werden sollte. Doch nach nur wenigen Monaten trat Rabbo zurück, weil er auf israelischer Seite zu wenig Kompromissbereitschaft vermutete.

Bleiben die arabischen Staaten. Als im Mai 1996 Benjamin Netanjahu zum israelischen Premierminister gewählt wurde, sahen sie das Ende aller Friedenshoffnungen gekommen und beriefen hektisch eine Gipfelkonferenz ein. Dem Frieden nützte die diplomatische Anstrengung wenig. Nachdem Ende September die zweite Intifada ausgebrochen war, kamen in Kairo die arabischen Staaten abermals zu einer Konferenz zusammen - ohne Einfluss auf den Gang der Ereignisse nehmen zu können. Auch diverse Verhandlungen in Paris, Scharm el-Scheich und Gaza haben den Frieden nicht näher gebracht. Dass just zum Zeitpunkt von Baraks Neuwahlentscheidung Ägypter, Jordanier und Palästinenser im jordanischen Akaba über neue Friedensschritte berieten, mag Bewunderung für den Durchhaltewillen der Diplomatie erregen. Doch die Entscheidung über Krieg und Frieden tragen die Diplomaten längst nicht mehr alleine.