junge Welt, 29.11.2000

Interview
Wie wurden Sie in der Türkei behandelt?

jW sprach mit Carsten Hübner, Bundestagsabgeordneter der PDS und Mitglied im Menschenrechtsausschuß des Parlaments

F: Sie sind gerade von einer Reise des Menschenrechtsausschusses in die Türkei zurückgekommen. Agenturen haben gemeldet, bei Ihrem Aufenthalt in Diyarbakir sei es fast zu Handgreiflichkeiten mit den Sicherheitskräften gekommen.

Das ist richtig. In Diyarbakir und in drei weiteren Provinzen gilt weiterhin der Ausnahmezustand. Dementsprechend ist dort das Auftreten der Sicherheitskräfte. Unsere Delegation, immerhin eine offizielle Delegation des Bundestages, wurde auf Schritt und Tritt von rund 15 zivilen Polizisten oder Geheimdienstleuten verfolgt. Es wurde die ganze Zeit gefilmt. Mit wem wir reden, wo wir hingehen, einfach alles. Und nicht etwa aus der Distanz, sondern immer aus unmittelbarer Nähe. Ganz eindeutig ging es darum, uns zu provozieren und gleichzeitig alle die einzuschüchtern, die sich in unserer Nähe aufhielten oder mit uns sprechen wollten. Als dann ein Kameramann der Polizei auch noch das klärende Gespräch mit dem verantwortlichen Einsatzleiter aus Zentimeterabstand gefilmt hat, ist die Situation eskaliert. Claudia Roth, die Vorsitzende des Ausschusses und Delegationsleiterin, hat in diesem Moment zu recht fast die Contenance verloren.

F: Wie man aus den in der Bundesrepublik zu empfangenden türkischen Fernsehsendern erfahren konnte, war der Delegationsbesuch insgesamt nicht gerade wohlgelitten.

Was die meisten Medien anbetrifft, besonders die Boulevardmedien, stimmt das. Die hatten sich bereits am ersten Tag der Reise auf Claudia Roth eingeschossen. Tag für Tag folgten Schlagzeilen, die ihren Rausschmiß forderten und sie zur »Feindin der Türkei« stempelten. Außerdem wurde offensichtlich gelogen. Aus dem Satz »Wir sind nicht als Lehrer ekommen« wurde postwendend »Wir sind als Lehrer gekommen«. Auch sollen wir Gespräche mit Leuten geführt haben, die wir gar nicht gesehen haben, z.B. mit dem Islamisten Erbakan. Das Klima war in dieser Hinsicht absolut eisig. Viele Gespräche und Reaktionen der Bevölkerung waren hingegen sehr offen und freundlich. Selbst die mit Gouverneuren oder dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Yilmaz. Das gilt besonders für unsere Tage im Südosten, in Diyarbakir, Mardin, Midyat, Hasankeyf und Batman.

F: Sie haben den Ort Hasankeyf besucht, der samt der Jahrtausende alten Kulturgüter in den Fluten des geplanten Ilisu-Staudamms versinken soll. Wie war Ihr Eindruck vor Ort?

Die Delegation war sich parteiübergreifend absolut einig, daß dieses Projekt auf keinen Fall wie geplant umgesetzt werden darf, weil die Landschaft wunderschön und die Kulturgüter wirklich beeindruckend sind. Hermes- Exportbürgschaften aus der Bundesrepublik für die Firma Sulza wäre Beihilfe zur Vernichtung eines bedeutenden Teils des Weltkulturerbes. Darüber hinaus müßten über 35 000 Menschen umgesiedelt werden, ohne daß es für sie eine adäquate Alternative gäbe. Dazu kommen ökologische und gesundheitliche Gefahren für die Region und die Menschen. Auch würde der erzeugte Strom sehr viel teurer werden als etwa der aus einem modernen Gaskraftwerk. Das ganze Staudammprojekt ist schlicht Quatsch und erfüllt nur den Zweck, einigen wenigen Leuten die Taschen zu füllen. Den Preis dafür soll die Bevölkerung zahlen.

F: Kann sich die Bevölkerung unter den Bedingungen im Südosten der Türkei denn überhaupt gegen das Projekt wehren?

Das ist natürlich schwer und vor allem gefährlich. Auch wenn die Provinz Batman offiziell nicht mehr dem Ausnahmezustand unterliegt, ist der Druck seitens der Sicherheitskräfte unverändert stark. Dabei kommt der Widerstand gegen das Projekt von fast allen lokalen Parteivertretern, bis hin in die Regierungsparteien. Aber am längeren Hebel sitzen andere. Deshalb ist Unterstützung aus dem Ausland auch so wichtig. Mit Öffentlichkeitsarbeit und im Parlament können wir das Projekt stoppen, indem wir öffentliche Exportbürgschaften verhindern.

Interview: Harald Neuber

Berichtigung

In dem am Montag veröffentlichten Interview »Profitiert deutsche Justiz von türkischer Folter?« hat sich ein verwirrender Fehler eingeschlichen. In der dritten Antwort von Eberhard Schultz heißt es: »Ich hoffe, daß auch im Fall von Erdem die Türkei verurteilt wird, den Mandanten (...) sofort freizulassen und ihn nach Deutschland ausreisen zu lassen«. Hier ist natürlich nicht von Selahattin Erdem die Rede, sondern von dem aus Moldawien entführten Cevat Soysal.